Amok: Thriller (German Edition)
wurde. Rasch schlüpfte sie hinein und kniete sich auf den Küchenboden, während draußen ein zweiter großer Geländewagen vorbeifuhr. Ein krampfhafter Schmerz durchzuckte ihre Eingeweide, sie hielt sich den Bauch und krümmte sich am Boden. Bunte Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen, und ihr Magen hob sich bedenklich.
Es dauerte fast eine Minute, bis der Schmerz sich so weit gelegt hatte, dass sie aufstehen konnte. Doch kaum hatte sie sich aufgerichtet, wurde ihr so schwindlig, dass sie sich an den Küchenschränken festhalten musste. Der tosende Sturm verstärkte noch den Eindruck, dass sie sich an Deck eines Schiffs befand, stampfend auf hoher See. Sie wollte sich einfach nur hinlegen dürfen, einfach nur die Augen schließen und ihre verzweifelte Situation vergessen. Aber das konnte sie nicht. Nicht, solange sie nicht die Polizei alarmiert hatte.
Zum Glück stand auf der Arbeitsplatte ein Telefon – seine gespenstisch bleiche Form hob sich vor dem dunklen Granit ab. Julia schleppte sich darauf zu und nahm den Hörer ab. Horchte auf einen Wählton – doch da war nur Totenstille. Sie starrte das leere Display an und sah plötzlich wieder die junge Mutter vor sich, schützend über den Leichnam ihres Sohnes geworfen. Blut auf weißblonden Haaren.
Sie hatten es wieder getan. Das Dorf isoliert. Sie von jeder Hilfe abgeschnitten. Und bei diesem Gedanken brach etwas in ihrem Inneren, genau wie damals im Januar. Vielleicht der erste Riss in den Grundmauern ihres Verstands. Damals hatte sie weiter gekämpft, aber diesmal war es anders. Ihr Bauch tat unerträglich weh. Sie fror, hatte panische Angst und war am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht mehr kämpfen.
Irgendwo im Haus waren mehrere laute Schläge zu hören, die das konstante Dröhnen des Windes gerade eben übertönten. Ihr Bewusstsein registrierte das Geräusch kaum. Sie ließ das Telefon fallen und wankte hinaus in den Flur. Tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Wie in Trance stieg sie die Stufen hinauf. Es war ihr gleich, wohin sie ging. Es war ihr alles gleich. Sie zweifelte nicht daran, dass sie schon so gut wie tot war.
76
Sullivan hatte ein ungutes Gefühl, und es wuchs mit jeder Meile, die er zurücklegte, mit jeder gesperrten oder überfluteten Straße. Nachdem er schon an einem Dutzend Unfällen und liegengebliebenen Autos vorbeigekommen war, fuhr er gleich hinter Handcross Hill heraus und hielt an. Inzwischen hegte er ernsthafte Zweifel am Sinn dieser Fahrt. Er versuchte George anzurufen, kam aber nicht durch. Aber da er schon einmal so weit gekommen war, beschloss er widerstrebend, die Sache durchzuziehen.
Als er von der B2112 abbog, war er nicht sonderlich überrascht, einen umgestürzten Baum quer über der Straße liegen zu sehen. Er hielt hinter einem Jeep an und fluchte. Beim Anblick der kräftigen Gestalt hinter dem Steuer fragte er sich, ob es ihnen vielleicht mit vereinten Kräften gelingen würde, den Baum so weit zur Seite zu ziehen, dass man vorbeifahren konnte.
Er stieg aus. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht und drang durch sein Hemd, und der Wind zerrte an seinem Parka, dessen Reißverschluss er längst nicht mehr über den Bauch bekam. Er hielt ihn mit den Händen zusammen, während er zu dem Jeep trabte. Der Fahrer war ein Weißer von etwa dreißig Jahren, mit kurz geschorenen dunklen Haaren und einem harten, misstrauischen Gesichtsausdruck. Er drehte sein Fenster ein paar Zentimeter herunter. »Da ist’n Baum umgefallen, Mann.«
Klar, danke für die Info, Einstein. »Sie haben nicht zufällig ein Abschleppseil dabei?«, fragte Sullivan. »Oder besser noch eine Kettensäge?«
Es sollte ein Witz sein, aber der Mann reagierte mit einer merkwürdigen Verzögerung. Es war ein Blick, den Sullivan in seiner Laufbahn schon tausendmal gesehen hatte: das unwillkürliche Zucken eines Mannes, der Dreck am Stecken hatte.
»Nee, Mann«, sagte er. »An Ihrer Stelle würd‘ich umkehren.«
Aber Sullivan ging schon auf den Baum zu. Sehr schnell fiel ihm auf, dass mit der Form des Stamms etwas nicht stimmte. Er endete in einer geraden Linie. Der Baum war abgesägt worden.
Seine Hand ging automatisch zu seinem Dienstausweis. Wird Zeit, dass ich mit diesem Witzbold ein bisschen Tacheles rede, dachte er. Als er sich umdrehte, ging die Tür des Jeeps auf, und Sullivan mahnte sich, den Ball flach zu halten. In seinen jungen Jahren musste ein Verdächtiger, der sich der Festnahme widersetzte, mit einem schmerzhaften
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