Amok: Thriller (German Edition)
dagegen. Zum einen würde sich daraus ein Gespräch entspinnen, und dabei wünschte sie sich in diesem Moment nichts so sehr wie Stille. Und nach dem Schrecken, den ihr Georges Frau eingejagt hatte, wollte sie nicht, dass er glaubte, sie sähe überall Gespenster.
Sie erreichten das eigentliche Dorf, wo die Tagestouristen sich anscheinend nach und nach anschickten, die Heimreise anzutreten. Es war fast vier Uhr, die Sonne stand tief am Himmel, und lange Schatten reckten sich wie Finger über den Dorfplatz.
»Tut mir leid, dass Sie mich noch nach Hause fahren müssen«, sagte Julia, als Craig einen etwas wehmütigen Blick in Richtung des alten Schulhauses warf.
»Das ist doch wohl das Mindeste«, erwiderte er.
Hinter einem Minibus fuhren sie am Laden vorbei und um die Kurve. Als Julia einen Parklücke vor dem Haus ihrer Eltern erspähte, sagte sie spontan: »Können wir hier einen Moment halten? Ich würde gern einen Blick ins Haus werfen.«
»Klar.« Craig fuhr an den Straßenrand. »Möchten Sie, dass ich mitkomme?«
Julia kramte in ihrer Handtasche nach dem richtigen Schlüsselbund. Sie war versucht, ja zu sagen, aber wenn sie jetzt nicht den Mut aufbrächte, allein hineinzugehen, würde es ihr beim nächsten Mal nur umso schwerer fallen.
»Nein, ich komme schon klar.«
Sie stieg aus. Trotz des schönen Wetters wurde es jetzt rasch kälter. Könnte Frost geben heute Nacht, dachte sie, während ihr Blick über die Häuserreihe schweifte, die Silhouetten der Schornsteine und Fernsehantennen vor dem indigofarbenen Himmel. Aus den Nachbarhäusern drang warmes Licht, während das ihrer Eltern mit den dunklen Fenstern wie eine hässliche Zahnlücke wirkte.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und sah sich an den Abend im Dezember zurückversetzt, als sie ihre Leichen gefunden hatte. Ihre Hand zitterte, doch nach einer Weile bekam sie ihre Nerven unter Kontrolle und schloss auf. Da schoss es ihr plötzlich durch den Kopf: Peggy Foresters Straße.
Da hatte sie den Land Rover gesehen. Oder einen, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah.
Sie ging hinein und schaltete das Licht ein. Wartete einen Moment, wie sie es vor zwei Monaten getan hatte. Das Haus fühlte sich leer an, verlassen, aber trotzdem rief sie: »Hallo?« Als ob ihre Mutter jeden Moment aus der Küche antworten würde: »Hier bin ich!« – und sie würde hineingehen und Mum beim Teigausrollen antreffen, während ihr Vater das Gemüse fürs Abendessen aus dem Garten holte, und sie könnten feiern, dass gar nichts Schlimmes passiert war, weil irgendjemand eine Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit zurückzudrehen …
Das wird nicht passieren.
Sie schnupperte. Die Luft roch abgestanden und klamm. Es war über eine Woche her, dass Neil zuletzt nach dem Rechten gesehen hatte, kurz bevor er nach Cheshire zurückgekehrt war. Einer der Nachbarn hatte einen Schlüssel, aber nur für Notfälle. Im Wohnzimmer löste sich an den Ecken schon die Tapete von der Wand, und sie glaubte den muffigen Modergeruch von Schimmelsporen wahrzunehmen. Wenn sie nicht bald etwas mit dem Haus unternähmen, würde es in kürzester Zeit unbewohnbar sein.
Ehe sie sich die Treppe vornahm, ruhte sie sich noch einen Moment aus. Beinahe ohne es selbst zu merken, hatte sie Craig etwas vorgespielt, und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viel Kraft sie das Ganze kostete.
Die nächste Herausforderung war eher emotionaler als physischer Natur. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern würde sie deren Schlafzimmer betreten. Nur mit Mühe konnte sie sich überwinden, das Bett anzuschauen, doch dann fiel ihr Blick auf ein großes, in Leder gebundenes Tagebuch, das auf dem Nachttisch ihres Vaters lag. Über vierzig Jahre lang hatte er getreulich all die Einzelheiten seines Alltags festgehalten, und im Gästeschlafzimmer lagerten ganze Kisten davon, dazu stapelweise Papiere, die sie möglichst bald würden sichten müssen.
Sie nahm das Tagebuch und wischte mit dem Ellbogen den Staub vom Einband. Plötzlich stieg eine sehr klare Erinnerung aus ihrer Kindheit in ihr auf: Ihr Vater saß an seinem Schreibtisch, und sie ging zu ihm, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Manchmal las sie noch ein bisschen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und versuchte mit gerunzelter Stirn die eleganten Schnörkel seiner Handschrift zu entziffern. Einmal hatte sie ihn gefragt, was er da mache. »Ich fange all die kostbaren Momente ein, damit sie nie vergessen werden«, hatte er geantwortet. Sie hatte darüber
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