Amokspiel
ausgelaugt. Heute Morgen war er als Psychopath verkleidet in das Studio eingedrungen. Nach und nach hatte er die Maskerade abgelegt, und zum Vorschein war ein bedauernswerter, hilfloser Mensch gekommen. Nicht sie, sondern er war das eigentliche Opfer.
Seh ich das richtig? Oder leide ich schon unter den Symptomen des Stockholmsyndroms?, fragte sich Kitty. Nach diesem psychologischen Paradoxon entwickelten viele Geiseln im Laufe ihrer Gefangenschaft freundschaftliche Gedanken gegenüber ihren Peinigern. »Sie müssen das nicht tun«, versuchte sie es zögerlich. Sie stellte das Glas vorsichtig auf den Studiotresen. So als wäre es aus wertvollstem Porzellan. »Doch, leider.« Er sah sie an.
»Warum? Zu welchem Zweck? Leoni kommt durch meinen Tod nicht zurück.«
»Ich weiß. Und eigentlich will ich dich auch gar nicht ...« Er sprach das letzte Wort nicht aus. »Und wieso hören wir dann nicht auf?«
»Weil es im Leben nur um zwei Dinge geht, Kitty. Hoffnung und Entscheidungen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Manche nennen es Träume. Oder Ziele. Für mich sind es Hoffnungen, die einen antreiben. Die Hoffnung, einen besseren Job als der Vater zu bekommen, sich mal ein Cabrio leisten zu können, vielleicht etwas Ruhm zu ergattern. Aber auf jeden Fall die Hoffnung auf die Liebe seines Lebens. Doch hoffen allein genügt nicht, Kitty. Um sich zu verwirklichen, muss man Entscheidungen treffen. Das steht auf der anderen Seite der Gleichung. Aber das tun die wenigsten im Leben. Die meisten auf diesem Planeten lehnen sich entspannt in ihrem Kinosessel zurück und sehen zu, wie die Helden auf der Leinwand die Entscheidungen treffen, die sie sich selbst nicht zu fällen trauen. Kaum einer bricht zu einer Reise ins Ungewisse auf. Wir brüllen dem Hauptdarsteller des Films zu, er solle endlich seinen gut bezahlten Job kündigen, um den verborgenen Schatz in der Wüste zu suchen. Im wahren Leben würden wir selbst das nie tun, es sei denn, unser Arbeitgeber gäbe uns ein Jahr bezahlten Urlaub. Es gibt nur einen hauchdünnen Unterschied zwischen der Masse und einigen wenigen an der Spitze. Die einen hoffen nur, die anderen treffen zusätzlich noch eine Entscheidung. Sie setzen alles auf eine Karte. Und sie sind bereit, alles zu verlieren, wenn das in letzter Konsequenz die Folge wäre.«
»Sie hoffen also immer noch, dass Leoni zu Ihnen zurückkommt?«
»Ja. Und ich traf die Entscheidung, bis hierher zu gehen.«
»Auch Menschen zu töten?«
»Ehrlich? Ich weiß es nicht. Nein. Mein Plan sah das e igentlich nicht vor. Auch wenn es da draußen keiner glauben wird: Ich habe weder den Polizisten noch den UPS-Fahrer erschossen. Du hast doch selbst bemerkt, dass sich der Körper im Leichensack noch bewegt hat?«
»Ja«, log Kitty. In Wahrheit war sie sich nicht mehr sicher. Alles war so schnell gegangen.
»Ich habe mich bei meinen Vorbereitungen auch nie mit der Frage auseinandergesetzt, wie weit ich gehen würde, wenn mein Plan versagt.«
»Und das haben Sie jetzt getan?«
»Ich denke schon.«
Er setzte sich den Kopfhörer auf, schob einen markierten Regler am Mischpult nach oben und zog das Mikrophon dichter zu seinen Lippen. Die Musik, die bis dahin gelaufen war, war verklungen.
»Ich mag dich, Kitty«, sagte er, und diese Worte wurden bereits wieder im Radio übertragen. »Ich werde für diese Runde eine Nummer in Berlin aussuchen. Eine, bei der du gute Chancen hast.«
»Wen rufen Sie an?«
»Das wirst du gleich hören.«
16.
»Hallo, sind Sie noch dran?«
Götz jagte den Mercedes mit einhundertzwanzig Sachen von der Stadtautobahn in die Beusselstraße, während Ira mit Leoni telefonierte. Das Navigationssystem errechnete alle sechzig Sekunden eine neue Ankunftszeit am MCB-Gebäude. Jetzt waren es nur noch vier Minuten.
»Ja, ja. Das bin ich. Aber ich kann das alles nicht glauben. Wer sind Sie noch mal?«
»Ira Samin. Ich habe heute als psychologische Verhand-lungsführerin lange mit Ihrem Verlobten gesprochen. Es ist so, wie ich es sage: Jan May hat Sie damals nicht an Ihren Vater verraten. Und Sie befinden sich gerade in akuter Lebensgefahr.«
Ira erklärte Leoni, wie sie an ihre Geheimnummer gelangt war. In der Villa von Faust war sie vor wenigen Minuten nahe dran gewesen, den Verstand zu verlieren. Tatsächlich hatten sie in der Segeltuchtasche ein Notizbuch mit einer spanischen Handynummer gefunden. Doch beim ersten Versuch war niemand drangegangen. »Faust ist tot?«, fragte Leoni entsetzt. »Mein Vater
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