Amokspiel
streichelte ihm über den zarten Flaum am Kopf. Dabei sah der vor ihr stehende Junge ihr Gesicht, und sein Blick veränderte sich schlagartig. Sein Lächeln erstarb und wandelte sich zu blankem Erstaunen. Susan drehte sich ruckartig um. Sah zurück zur Passkontrolle. Dann wieder zu dem Jungen mit dem Dino-Shirt, der von seiner Mutter schon weitergezogen wurde.
Was geht hier vor?, fragte sie sich nun schon zum zweiten Mal in kurzer Folge. Der kleine Bengel hatte sie mit der gleichen Miene angesehen wie zuvor der Beamte am Schalter. War etwas mit ihrem Gesicht? Irgendetwas mit den Narben?
Sie brauchte dringend einen Spiegel. Susan war an der Reihe und legte die Tasche aufs Band und den Schlüssel in eine grüne Plastikschale. »No«, erwiderte sie kurz auf die Frage der dicken Spanierin hinter dem Röntgengerät. »Mehr Gepäck habe ich nicht.«
Dann durfte sie durchgehen. Als es fiepste, wusste sie plötzlich den Grund. Warum der Mann ihren Pass so lange gemustert hatte. Und warum der Junge in dem Dino-Shirt mit dem Finger immer noch auf sie zeigte, während er von seiner Mutter achtlos zu den Abfluggates gezogen wurde.
Susan sah ihr eigenes Gesicht und schaute dennoch nicht in einen Spiegel. Sondern in einen Fernseher. Er hing über der Kasse des Duty-Free-Shops, direkt gegenüber von den Kontrollen. »¿Dónde está Leoni Gregor?«, lautete die Bildunterschrift.
Susan ließ die Prozedur der Personenkontrolle wie in Trance über sich ergehen. Sie folgte den Anweisungen der gelangweilten Blondine mit den roten Strähnchen im Haar, stellte ihre Füße abwechselnd auf einen kleinen grauen Hocker und behielt dabei die ganze Zeit den tonlosen Bildschirm im Auge. Wo ist Leoni Gregor? Wer kennt diese Frau? Es wurde eine Nummer eingeblendet. Und dann erschien in der rechten Bildecke etwas, das Susan nie mehr sehen wollte. Ein Bild eines Menschen, von dem sie geträumt hatte, als sie noch Feodora Schuwalow war. Den sie mehr als sich selbst liebte, während sie sich Leoni Gregor nennen musste. Und um dessentwillen sie sich jetzt unter dem amerikanischen Decknamen >Susan Henderson< verstecken musste, wenn sie durch seinen Verrat nicht sterben wollte. Sie sah das Foto ihrer größten Liebe und zugleich schlimmsten Feindes. Den Vater des Kindes auf ihrem Arm. Jan May.
»Ich glaub, da will dich jemand sprechen, Baby«, sagte ein halbstarker Jugendlicher, dem seine gürtellose Jeans um die Hüfte schlabberte. Er grinste sie an, während er mit seinen lachenden Freunden an ihr vorbeizog.
Erst jetzt registrierte sie, dass sie die Kontrolle offenbar bereits passiert und zu dem Duty-Free-Shop gegangen war. Tatsächlich klingelte das Handy in ihrer Hand. Nicht rangehen, war ihr erster Impuls. Es gab nur zwei Menschen, die diese Nummer kannten. Drei, wenn man den neuen Kontaktmann in Zürich dazu-zählte. Doch keiner dieser Namen stand gerade im Display.
Sie sah wieder hoch zum Fernseher, auf dem immer noch ihr Porträt in Großformat prangte. Nur die Bildunterschrift hatte sich geändert. Jetzt stand da etwas von einer Geiselnahme in einem Berliner Radiosender. Sie steckte das Telefon weg, das schon lange nicht mehr klingelte, und las weiter die Eilmeldung auf dem Laufband. Es gab me hrere Tote, hieß es da. Jan May wäre ein perverser Killer. Er würde wahllos Menschen anrufen und Geiseln töten. Und er würde sie suchen. Mich? Woher weiß er, dass ich noch lebe? Faust hatte ihr heute Morgen nur ausrichten lassen, sie müsste zu ihrer eigenen Sicherheit wieder verlegt werden. Eine Routinemaßnahme. Ansonsten befände sich alles im Lot.
Und jetzt sucht mich Jan May über das internationale Fernsehen? Und bringt Unschuldige um, bis er mich findet? Davon hatte man ihr nichts gesagt. Vielleicht ist es ganz gut, dass du die Nummer nicht kennst, die dich angerufen hat, dachte sie sich. Von Faust und seinen Leuten erfährst du offenbar sowieso nicht die ganze Wahrheit.
Sie eilte zu den Toiletten, schloss sich in einer Kabine ein und wählte die einzige Nummer in ihrem Handy mit dem Vermerk »Anruf in Abwesenheit«.
Kitty umschloss das Wasserglas mit klammen Fingern. Sie suchte in den Augen von Jan nach einem Zeichen. Einem Hinweis, dass die gute Seite in ihm die Oberhand behalten würde. Er war kein schlechter Mensch. Wenigstens nicht ausschließlich. Der Mann, der sie mit der Waffe bedrohte und dabei im Internet nach einer Telefonnummer für sein Spiel suchte, war selbst nur ein Opfer der Umstände. Er war verzweifelt und
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