Amokspiel
Flucht.«
»Ich bin nicht geflohen. Und von dem Geld habe ich keinen Cent ausgegeben.« Sie folgte seinem Blick und sah erst jetzt die gelbe Segeltuchtasche links neben dem Schreibtisch.
»Natürlich habe ich Marius' Zahlung angenommen. Glauben Sie nicht, es wäre ihm aufgefallen, wenn ich seine Tochter gratis ermordet hätte? Das gehörte zum Plan. Noch mal: Ich habe Leberkrebs. Was will ich denn mit siebenhundertfünfzigtausend Euro? Mir bleiben noch maximal fünf Monate. Die will ich in der Nähe deutscher Ärzte und nicht in einem Dorfkrankenhaus an der bolivianischen Küste leben, zumal ich kein Wort Spanisch kann.«
»Moment mal.« Ira legte den Kopf zur Seite, als könne sie ihn dadurch besser hören. »Dann sollte Leoni also zurück nach Berlin kommen?«
»Ja natürlich. In zwei Tagen. Alles war arrangiert. Ich wollte ihren Vater und die Mafia, die gesamte heilige Familie, in Sicherheit wiegen und dann . « Er öffnete die Faust seiner linken Hand wie eine aufblühende Blume. »In drei Tagen hätte Leoni ausgesagt, Schuwalows Organisation wäre zerschlagen und Jan glücklich mit seiner Verlobten vereint. Verstehen Sie jetzt, was Sie angerichtet haben? Sie und dieser liebeskranke Irre in dem Radiosender? In Ihren verzweifelten Bemühungen auf der Suche nach Leoni haben Sie die Mafia auf deren Spur gebracht. Der Prozess ist jetzt gelaufen. Mein Leben zu Ende.«
»Warum sagen Sie uns dann nicht, wo Sie Leoni versteckt halten?«
»Wenn ich es tue, wird sie umgebracht werden. Qualvoll!«
»Es sind bereits Menschen gestorben«, erwiderte Ira. »Wie viele wollen Sie noch opfern? In dem verdammten Todesstudio steckt meine Tochter, und er wird sie in wenigen Sekunden umbringen, wenn Sie mir nicht sagen, wohin Sie Leoni gebracht haben. Wissen Sie, was ich denke? Ihnen geht es doch gar nicht um Leoni. Sie haben nur Angst um sich selbst. Sonst hätten Sie nicht alles unternommen, um den Geiselnehmer mundtot zu machen. Sie wollten das Studio stürmen, bevor Jan May zu viel erzählt oder ich zu viel über Leoni herausfinde. Bevor Marius' Zweifel bestätigt werden. Dabei hätten Sie die ganze Zeit über nur zum Telefon greifen müssen, um das Geiseldrama zu beenden. Leoni könnte jetzt schon im Flieger nach Berlin sitzen, und niemand wäre gestorben. Aber Sie haben es nicht getan. Aus Angst. Angst, dass sich >der Streichler< mit seinen Säurehandschuhen an Ihnen austobt, nur weil Sie sich sein Geld genommen haben.« Die Augenlider des Oberstaatsanwalts zitterten, und er sah plötzlich unglaublich müde aus. »Ja, das stimmt. Ich habe Angst. Natürlich. Aber genau aus diesem Grund war Flucht nie eine Option.« Er schluckte. »Wie Sie sehen, habe ich noch alle Haare. Ich lehne eine Chemotherapie ab. Und wissen Sie, warum? Ich fürchte mich vor Schmerzen. Doch wie die Dinge nun mal liegen, führen mich alle verbleibenden Wege zu einem qualvollen Ende. Entweder ich warte darauf, dass meine Morphiumpumpe ihre Wirkung verliert. Oder auf Marius.«
Er wandte sich wieder zu Götz.
»Nachdem Sie jetzt alles von mir wissen, haben Sie da Ihre Meinung vielleicht geändert?«
»Was meinen Sie?«
»Werden Sie mich jetzt erschießen?«
»Nein.«
»Dann werde ich es tun«, sagte der Oberstaatsanwalt. Und jagte sich eine Kugel in den Kopf.
13.
Nur noch zehn Minuten.
Ira rannte zum Schreibtisch und prüfte den Puls von Faust. Tot.
Das darf nicht wahr sein. Bitte, lieber Gott, lass es nicht wahr sein.
Wie ein Mantra wiederholte sie diese stumme Bitte immer und immer wieder, so lange, bis sie sich selbst an den Kopf schlug, um die Endlosschleife zu unterbrechen. Sie riss die Schubladen des Schreibtisches auf. Nichts. Nur der übliche Bürokram, einige Papiere und Utensilien, die man zum Pfeiferauchen benötigte.
Wie durch einen Dunstschleier registrierte sie schwach, dass Götz eine Funkverbindung zur Einsatzzentrale herstellte. Wahrscheinlich holte er einen Krankenwagen.
Denk nach. Warum hat er dir nicht gesagt, wo Leoni ist? Das ergibt doch keinen Sinn.
Warum sollte er sie über seinen Tod hinaus schützen? Ihre Gedanken hingen fest und drehten sich nur noch um diesen Aspekt.
Warum hat er Leonis Aufenthaltsort nicht verraten? Weiß er es nicht? Doch, denn sonst hätte er das gesagt. Also noch mal: Warum schwieg er? Vielleicht weil ...
Sie fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen.
Moment mal. Vielleicht HAT er es ja gesagt!
Ira sah sich um. Im unteren Fach der Glasvitrine stand eine Stereoanlage. Sie lief
Weitere Kostenlose Bücher