Amokspiel
Studiobereich wie eine gequälte Ehefrau ihrem wütenden Mann, der sie gleich verprügeln würde. Ihr ganzer Körper brannte, während sie langsam an den leeren Schreibtischen vorbeischlurfte. Als sie ihr Spiegelbild in der Glaswand des Studiokomplexes sah, musste sie plötzlich an ihre Mutter denken. Salina Samin hatte zeit ihres Lebens penibel auf korrekte Kleidung geachtet. Nicht, um den Männern zu gefallen, sondern aus Angst vor einem Unfall. »Notfälle kommen immer überraschend«, pflegte sie zu sagen. »Und wenn man dich ins Krankenhaus einliefert, willst du dich dort den Ärzten doch nicht in hässlicher Unterwäsche zeigen.« Die Ironie des Schicksals wollte, dass sie in der Dusche ausrutschte und sich das Genick brach. Sie starb splitternackt. Heute hätte ich besser auf Mama gehört, dachte Ira resigniert. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden trug sie jetzt nur noch ihre Unterwäsche, so wie Jan es gefordert hatte. Ihre nackten Füße tappten auf dem kühlen Parkett, während sie mit erhobenen Händen auf den Studiokomplex zuging. Das A-Studio wurde immer noch durch die Brandschutzjalousie abgeschottet. Es gab keinen Sichtkontakt. Dafür wurde ihre jämmerliche Gestalt gerade von mehreren Überwachungskameras eingefangen. Sie konnte sich gut die Kommentare der Beamten vorstellen, die ihren fleischfarbenen Slip begutachteten, den sie zu einem schwarzen Spitzen-BH trug. »Das hat man davon, wenn man sich im Dunkeln anzieht«, sprach Ira zu sich selbst. »Eigentlich wollte ich heute Morgen nur mal kurz raus zu Hakan, um eine Cola light zu holen.«
Und mich dann vergiften, fügte sie in Gedanken hinzu. Ira war nur noch zwei Meter von den dicken Glasscheiben entfernt, die die Nachrichtenstudios von der Redaktionszone abgrenzten.
»Machen Sie die Tür auf, und kommen Sie in den Vorbereich«, dröhnte es auf einmal aus einem Lautsprecher direkt über ihr. Depeche Mode war verstummt. Jan war wieder auf Sendung. Er sprach über das Radio zu ihr. Ira tat, wie ihr befohlen. Sie wuchtete die schwere, schalldichte Glastür nach innen auf, nahm eine Stufe und trat ein. Sie sah sich um. Links neben ihr gab es eine leicht erhöhte Plattform mit mehreren aneinandergereihten Sendenischen, samt Mikrophon, Computer und Stehhockern, für die Nachrichten- und Wettermoderatoren. Der schmale Gang, der an ihnen vorbeiführte und in dem Ira gerade stand, führte direkt auf die verschlossene Tür vom A-Studio zu.
»Und jetzt Hände hoch.« Dieses Mal kam die Stimme aus einem kleinen Computerlautsprecher vom Nachrichtenplatz.
Ira hob beide Arme in die Luft. Ein Wirbel knackte ungesund, als sie die Oberarme in Schulterhöhe nahm. Jetzt fühlte sie sich wie eine der drogensüchtigen Prostituierten vom Babystrich der nahe gelegenen Kurfürstenstraße. Halbnackt, der Körper mit blauen Flecken übersät, völlig schutzlos dem perversen Freier ausgeliefert, der im Sendestudio auf sie wartete. Mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Gegenleistung nicht in mageren zwanzig Euro bestand, sondern im Leben ihrer Tochter. Hoffentlich. Wenigstens hab ich mir gestern noch die Achseln rasiert, dachte sie bei sich, als die Tür zum A-Studio plötzlich nach innen aufgezogen wurde.
»Kitty!«, rief Ira laut. Die blonden Haare, die sie vom Vater geerbt hatte, waren das Erste, was sie von ihrer Tochter im Türrahmen sah. Sie trug sie jetzt länger. Erst sah es so aus, als wären sie ins Gesicht gekämmt. Dann erkannte sie, dass Kitty ihr den Rücken zuwandte. »Umdrehen«, befahl Jan. Sie gehorchte. »Und jetzt rückwärtsgehen. Zu mir. Aber schön langsam.«
Schon als kleines Kind wollte sich Ira nie rücklings in die Arme ihrer Freundinnen fallen lassen. Ihr Vertrauen dazu war nie groß genug gewesen. Einmal hatte sie sich überwunden und ganz fest damit gerechnet, mit dem Hinterkopf auf dem sandigen Boden des Spielplatzes aufzuschlagen. Obwohl sie damals eines Besseren belehrt wurde, blieb es bis heute dabei. Ira sah einer Gefahr lieber direkt ins Auge, als sich abzuwenden. Doch Jan ließ ihr gerade keine Wahl. »Beeilung.«
Ihr Herz drückte von innen schmerzhaft gegen ihre gebrochene Rippe, während sie ein Bein nach dem anderen nach hinten setzte. Sie sah nach unten. Zu der Bodenkante. Wenn sie hierzu parallel lief, musste sie früher oder später die Tür erreichen. Und Jan.
Sie hatte erst zwei quälend lange Meter auf diese Art und Weise zurückgelegt, als sie aufschrie. Etwas hatte sie berührt. Etwas Weiches. Flüchtig, am
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