Amokspiel
scheinbar unendliche Wolkendecke und fragte sich, ob sie diesen Tag wohl überleben würde.
19.
Ira zog langsam die Trainingshose über ihre aufgeschrammten Beine. Jede Bewegung des Stoffes auf ihrer ausgetrockneten Haut fühlte sich an, als schabe Sandpapier über eine offene Wunde.
»Ich darf das nicht zulassen.« Steuer machte keine Anstalten, die Verhandlungszentrale im neunzehnten Stock zu verlassen, während Ira sich vor seinen Augen auszog. »Hindern Sie mich doch daran«, erwiderte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie ahnte, dass die ohnmächtige Wut ihn gerade innerlich in Stücke riss. Auf der einen Seite könnte er sie verhaften lassen. Auf der anderen Seite müsste er sich dann vor der gesamten Medienöffentlichkeit dafür rechtfertigen, warum er den angekündigten Austausch der letzten Geisel verhindert hatte. Götz hatte dem Einsatzleiter bereits per Funk die neuesten Ereignisse durchgegeben. Von der Folterung durch Marius Schuwalow über Fausts Geständnis bis hin zu seinem Freitod. Steuer war auch darüber im Bilde, dass Leoni noch lebte und in diesem Augenblick den spanischen Luftraum verließ.
Plötzlich spürte sie seinen feuchten Atem im Nacken. Sie erstarrte.
»Sie denken, ich bin ein Arschloch, und Sie sind die Heldin in diesem Drama, nicht wahr? Aber Sie irren sich.« Ira befreite auch das andere Bein aus der Hose und warf sie auf einen Schreibtischstuhl, der nur einen halben Meter entfernt stand. Allein diese Bewegung schmerzte sie wie ein Tritt gegen die Rippen. Sie tastete mit den Fingern nach der faustgroßen Schwellung links unten an ihrem Brustkorb und zuckte sofort zusammen, als hätte Steuer ihr soeben einen Stromschlag verabreicht. »Glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben. Aber ich bin auf Ihrer Seite.« Ira lachte kurz auf.
»Davon hab ich heute nicht viel bemerkt.«
»So? Die Tatsache, dass Sie überhaupt noch etwas bemerken können, ist schon Beweis genug. Warum habe ich Sie wohl abgezogen? Damit genau das hier jetzt nicht passiert. Damit Sie keine Dummheiten machen. Ihre Emotionen haben die Kontrolle übernommen.« Ira spürte seinen aggressiven Blick auf ihrem Rücken. »Eigentlich könnten Sie mir ja egal sein, Ira. Aber es geht hier nicht nur um Sie oder Ihre Tochter. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass Jan vielleicht mit Schuwa-low unter einer Decke steckt?«
Nein. Auf diese Idee war sie tatsächlich noch nicht gekommen.
»Es gibt nicht einen Grund, ihm zu trauen. Woher wissen wir, was ihn antreibt? Ist es wirklich Liebe? Oder wird er von Schuwalow dafür bezahlt, dass er Leoni findet und rechtzeitig vor dem Prozess erledigt?« Nach einer kurzen Pause setzte Steuer weiter nach. »Das sagen zumindest einige der Geiseln, die wir befragt haben. Jan hat ganz offen angekündigt, dass er Leoni ermorden wird, sobald wir sie zu ihm bringen. So wie Stuck und Onassis.«
Ira überlegte, mit welchen Argumenten sie Steuers Hypothese vom Tisch fegen könnte. Ihr fielen keine zwingenden ein. Vielleicht hatte Jan wieder nur geblufft? Weil er die revoltierenden Geiseln schocken wollte, um Ruhe ins Studio zu bekommen? Auf der anderen Seite war Jan ein psychologisch geschulter Schauspieler. Er hatte sie alle heute schon mehrfach hinters Licht geführt. Auch diese Täuschung war ihm zuzutrauen.
Gerade als sie zu einem Kommentar ansetzen wollte, war auf einmal sein Atem wieder weg. Sie spürte Steuers körperliche Nähe nicht mehr so aufdringlich. Ira wollte sich nicht zu dem Ekel umdrehen, aber sie war sich ziemlich sicher - er musste einen Schritt zurück gemacht haben.
Oder sogar mehrere. Wie zum Beweis klang seine Stimme etwas weiter entfernt.
»Leoni steht als Susan Henderson auf der Passagierliste von Flug Swiss 714 von Barcelona nach Zürich. Ich habe die erforderlichen Maßnahmen in die Wege geleitet. Die Maschine wird umgeleitet.«
Jetzt konnte sie doch nicht an sich halten. Sie drehte sich zu ihm um, konnte aber nur seinen breiten Rücken sehen. In der Tür blieb er noch einmal kurz stehen. »Halten Sie mindestens zwei Stunden durch, Ira. Wir werden Leoni aufs Dach des Gebäudes bringen.« Dann war er verschwunden.
20.
Enjoy the Silence. Genieße die Stille. Jan May musste ein Depeche-Mode-Fan sein. Seitdem er alleine im Studio war, kümmerte er sich selbst um die Musikauswahl. Das war jetzt schon der zweite Titel der britischen Synthy-Pop-Legende, der in diesem Moment aus den Deckenlautsprechern der Großraumredaktion hallte. Ira näherte sich dem
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