Amokspiel
zusammenzählte. »Sie landet in etwa zwei Stunden in Tegel und wird dann mit dem Hubschrauber aufs Dach des MCB-Gebäudes geflogen.«
»Gut, ich möchte sie so schnell wie möglich wiedersehen. Ich habe für uns beide einen Tisch bei Gudrun reserviert, wir werden draußen sitzen.«
»Verstehe«, bestätigte die namenlose Stimme am anderen Ende. In der Gudrunstraße lag der Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde. »Das Gleiche gilt auch für Kitty.«
»Ja.«
»Ich möchte nicht, dass es schon wieder eine Panne gibt. Sobald sie ins Krankenhaus kommt, wird sie eingeladen.«
»Alles klar.«
Der Mann am anderen Ende klang nüchtern und routiniert, als hätte er derartige Befehle schon oft entgegengenommen.
Marius verabschiedete sich von dem Maulwurf, beendete das Gespräch und betrachtete lächelnd seinen Einkauf. Er würde sich nicht die Mühe machen, die Waren in seinen Kofferraum zu laden. Alles landete in dem großen Müllcontainer am Ausgang. So wie immer. Noch nie hatte er sich dazu herabgelassen, diese Billigprodukte auch zu verwenden. Eher würde er auf sein Wechselgeld verzichten. Oder Leoni und Kitty heute am Leben lassen.
22.
Die ersten Sekunden der Begegnung wollte es Ira nicht wahrhaben. Dieser Mann sollte für den Terror heute verantwortlich sein? Jan machte auf sie eher den Eindruck eines Opfers als den des psychopathischen Massenmörders.
Zu nett, war ihr erster Gedanke, als sie vor ihm stand. Ira hatte sich fest vorgenommen, den potenziellen Mörder ihrer Tochter zu hassen, was ihr in diesem Augenblick ausgesprochen schwerfiel. Sie standen beide in der kleinen Senderküche, in der Kitty sich unter der Spüle versteckt gehalten hatte. Jan hatte das CD-Regal, das den Fluchtweg durch die Küche versperrt hatte, wieder zurückgewuchtet, als Ira um ein Glas Wasser bat, bevor sie ihm die Sachlage in allen Einzelheiten schilderte. Und ganz offensichtlich glaubte er ihr. Dass Leoni bald zu ihm kommen würde. Dass sie sich schon auf dem Weg nach Berlin befand. Eigentlich hätte Ira erleichtert sein müssen. Jan hatte sie weder gefesselt noch sonst bedroht. Überhaupt wirkte er nicht gefährlich, sondern im Gegenteil erschöpft. Aber Ira wusste, dass sie sich von dem intelligenten Gesicht mit den tiefgründigen Augen nicht einlullen lassen durfte. Schon das Grundlehrbuch der Polizeipsychologie verbot jeglichen Rückschluss vom Äußeren auf die Persönlichkeit. Jan war einem Straßenköter vergleichbar. Er konnte noch so harmlos daherkommen und dennoch von einer auf die andere Sekunde heimtückisch zubeißen. Sie wusste gar nichts über sein Innenleben. War er wirklich wahnsinnig vor Liebe? Oder wollte er Leoni in Wahrheit umbringen, so wie Steuer es vermutet und einige Geiseln ganz ausdrücklich zu Protokoll gegeben hatten? Unvorstellbar, dachte Ira die ganze Zeit, während sie Jan darüber in Kenntnis setzte, was mit seiner Freundin passiert war. Aber genauso unvorstellbar war sein gesamtes Schauspiel heute.
»So, jetzt wissen Sie's«, beendete Ira ihre kurzatmigen Ausführungen.
Jan stand wie festgeschraubt vor ihr und bewegte sich keinen Millimeter.
»Aber ...«, stammelte er. »... das bedeutet ja, alles, was ich heute für Leoni getan habe ...«
»… hat sie in größte Lebensgefahr gebracht, ja.«
Ira fröstelte. Sie zog das abgelegte Sweatshirt des Geiselnehmers über, um ihre Blöße notdürftig zu bedecken. Der dreckige Stoff roch unpassend angenehm nach einem f rischen Aftershave und hing Ira wie ein Rock um die Hüften.
»Gibt's hier auch noch was anderes als Wasser?« Sie öffnete den Kühlschrank. Die schwache Halogenleuchte brauchte eine Sekunde, bevor sie zitternd den Innenraum mit Licht versorgte. Nichts. Nur ein angebrochenes Glas Nutella und ein offenes Stück ranzige Butter. Aber keine Cola. Schon gar keine Cola light Lemon. Ira schloss den Kühlschrank, dessen Tür mit einem schmatzenden Geräusch zufiel. Sie griff sich ein Glas von der Spüle und drehte den Wasserhahn auf. Eigentlich bräuchte sie jetzt wieder etwas Härteres. Der winzige Schluck in der »Hölle«, das Novalgin und der erhöhte Adrenalinausstoß der letzten Stunden hatten den Tremor etwas hinausgezögert. Aber jetzt musste langsam Nachschub her, wenn es nach ihrem Kreislauf ging.
»Wir sollten uns jetzt darüber unterhalten, was auf dem Dach passieren wird«, sagte sie als Nächstes. »Auf dem Dach?« Jan saß jetzt auf einem Hocker neben einem kleinen Küchenklapptisch und hob den Kopf in ihre Richtung.
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