Amokspiel
befreien. Steuer antwortete nicht.
»Ist das wirklich Ihr Ernst?«
Der Einsatzleiter drehte mit einem müden Lächeln seinen Kopf und sah auf Ira herab.
»Ach? Sind Sie etwa sauer, dass Sie nicht selbst darauf gekommen sind?«
Der Fahrstuhl setzte sich kaum merklich in Bewegung, und Ira gelang es endlich, eine Hand aus der Metallumklammerung der Handschellen zu lösen.
»Die Beamten in dem Callcenter sind bestens instruiert, wie sie sich im Falle des Falles am Telefon zu melden haben. Sie kennen die Parole.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« Ira starrte in das aufgedunsene Gesicht des Polizeidirektors. Zahlreiche fettige Zwischenmahlzeiten und unnötige Bürosnacks hatten zweifelsfrei ihre Spuren hinterlassen. »Mein voller Ernst. Leider ist die Studioanlage sehr kompliziert. Die Techniker können noch nicht garantieren, dass wirklich alle ausgehenden Anrufe umgeleitet werden. Sie müssen erst noch einen Testlauf machen.«
»Das wäre ein großer Fehler«, protestierte Ira, doch Steuer ignorierte sie jetzt wieder. Der Fahrstuhl war im sechsten Stock angekommen und öffnete seine Tür zum Bereich der Einsatzleitung. Steuers Schaltzentrale. Oben, in der neunzehnten Etage, besetzte das Verhandlungsteam nur ein mittelgroßes Büro. Hier unten hatte Steuer eine gesamte Büroetage des MCB-Gebäudes für seine Zentrale okkupiert. Eigentlich wollte hier im nächsten Monat ein Marktforschungsunternehmen seine Zweigstelle eröffnen. Das Stockwerk war erst zu neunzig Prozent fertig. Es sah aus wie in einer Messehalle am Tag vor der Ausstellungseröffnung. Umzugskisten, eingeschweißte Büromöbel und ganze Teppichrollen lagen zwischen den zukünftigen Telefon-Arbeitsplätzen des Großraumbüros. Von hier aus sollten in wenigen Tagen schlecht ausgebildete Teilzeitkräfte willkürlich ausgewählte Personen anrufen und sie nach ihrer Meinung über die Beliebtheit der Bundesregierung befragen. Die Telefone und Computer dafür funktionierten bereits. An einigen saßen Beamte und telefonierten.
»Also, Ira, entscheiden Sie sich. Entweder Sie fahren mit dem Fahrstuhl wieder rauf und fangen an zu arbeiten, oder Sie verabschieden sich hier und jetzt. Nur halten Sie mich nicht länger von meiner Arbeit ab.« Während Steuer in die Leitstelle eilte, blieb Ira staunend in der Fahrstuhltür stehen. Eins musste man ihm lassen: Der SEK-Chef hatte in der kurzen Zeit ganze Arbeit geleistet. In der rechten hinteren Ecke waren alle Zwischenwände wieder herausgerissen worden. Sie sollten einem originalgetreuen Nachbau des Studiokomplexes aus dem neunzehnten Stock weichen. Bislang stand erst eine Ri-gipswand. Die Glasscheiben fehlten noch. Doch eine wurde gerade von zwei Männern durch den Raum getragen.
Ira löste sich aus ihrer Verblüffungsstarre und betrat das Großraumbüro. Auf dem Fußboden markierten weiße Aufkleber die Stellen, an denen die Teppichverleger nächste Woche einen Läufer mit dem Firmenemblem des Instituts auslegen sollten. Ira folgte ihnen und sah, dass der Weg sie zum Chefbüro in der linken Ecke der Ebene führte. Die schwere Holztür stand offen, und so konnte Ira sehen, wie Götz und Steuer gemeinsam auf einen Monitor starrten, der auf einem obszön großen, oval geschwungenen Schreibtisch thronte. Steuer saß auf einem schwarzen Ledersessel. Götz stand hinter ihm und beugte sich über seine Schulter.
»Können wir von hier aus auf die Überwachungskamera zwölf schalten?«, fragte Steuer gerade, als Ira den Raum betrat. Beide sahen kurz auf. Während Götz ihr aufmunternd zunickte, lag in Steuers Blick unverhohlene Verachtung. Wenn er etwas sagen wollte, so schluckte er es jedoch aus Zeitgründen wieder herunter. Auf dem Schreibtisch neben dem Computer stand ein transportab-les Würfelradio mit einer digitalen Zeitanzeige. 8.34 Uhr. Noch dreiundreißig Sekunden bis zur ersten Spielrunde. Götz beugte sich über Steuers Schulter und tippte etwas in die mobile Computereinheit. Auf dem Plasmabildschirm baute sich ein Bild vom Haupteingang des Radiosenders auf. Ira konnte alles gestochen scharf auf einem zweiten Monitor verfolgen, der auf der ihr zugewandten Seite des Schreibtisches stand. Vermutlich für einen von Steuers Assistenten. Der Bildschirm zeigte den Empfangstresen im neunzehnten Stock, eine Metallleiter davor. Daneben stand ein schmächtiger Polizeibeamter, der gerade im Begriff war, seine Uniform auszuziehen. »Alles ist so, wie Sie es angeordnet haben«, erklärte Götz, und Steuer nickte.
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