Amokspiel
gebrochenen Nase klang er jetzt, als wäre er stark erkältet.
»Danke. Sobald dieser Mega-Hit von Queen zu Ende ist, werde ich Flummi bitten, mir eine freie Telefonleitung nach draußen zur Verfügung zu stellen. Und dann werden wir die erste Runde Cash Call mit den neuen Regeln spielen.«
Jan hob seine linke Hand, die er zur Faust geballt hatte, und zählte beim Sprechen jeden Punkt seiner Aufzählung an den Fingern ab.
»Also, ich habe einen Produzenten, ich habe ein Telefon und eine Leitung. Ich habe die Spielregeln. Fehlt nur noch der Einsatz. Wen soll ich freilassen, wenn am anderen Ende die richtige Parole gesagt wird?« Keiner wagte es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Jeder wusste, dass es nicht um eine Freilassung ging. Nur Sandra hob kurz den Kopf, und Jan konnte in ihren hellen Augen unendlichen Hass erkennen. Im Gegensatz zu Theodor, der in seinem Schockzustand wie ein Autist mit dem Kopf wackelte, erschien sie als tapfere Mutter, die anscheinend als Einzige noch den Mumm hatte, der Gefahr ins Auge zu sehen. Jan wunderte sich, wie viel man aus einem einzigen Blick lesen konnte. Doch dann zwang er sich wieder zur Konzentration auf den nächsten Schritt und startete sein perfide durchdachtes Auswahlverfahren. »Ja, ja, ich weiß. Jeder von euch will der Erste sein. Und da ihr euch nicht entscheiden könnt, werde ich wohl selbst die Wahl treffen müssen.«
»O mein Gott ...« Cindy schluchzte auf und vergrub ihr Gesicht im Oberkörper ihres Mannes. »Bitte ...« Jan hob beschwichtigend beide Hände. Die Waffe hielt er dabei weiterhin, leicht abgewinkelt, in seiner Rechten.
»Nicht zu früh freuen. Noch ist es ja nicht so weit. Ich werde meine Entscheidung erst nach der ersten Spielrunde bekannt geben.«
Die beiden Frauen im Studio schlossen ihre Augen. Alle anderen versuchten, keine Reaktion zu zeigen, und wirkten dadurch nur noch nervöser.
»Noch mal zur Erinnerung«, sagte Jan wieder lauter. »Ich rufe gleich irgendeine Telefonnummer in Berlin an. Dann sind wir alle sehr gespannt, ob sich der Teilnehmer mit der Parole meldet, die da heißt?«
Jan richtete die Pistole auf Maik, der blass wurde und anfing zu stottern: »Ich ... ich ... höre 101 ... äh ... Punkt ... äh . fünf. Und je. jetzt .«
». und jetzt lass eine Geisel frei. Richtig«, ergänzte Jan im doppelten Sprechtempo. »Und gleich danach suche ich mir aus, wen ich freilasse oder - falls der Angerufene die Parole wider Erwarten falsch aufsagen sollte - wen ich .« Er ließ den Satz unvollständig, aber dadurch umso bedrohlicher im Raum stehen.
Jan sah noch mal aus dem Augenwinkel auf die Uhr und verglich die Restzeit mit der Anzeige des Musiccompu-ters. Noch eine Minute und dreißig Sekunden. Queen startete in die letzten Refrains.
»Manfred?« Er warf ihm einen kurzen Blick zu und griff sich dabei den ersten Band des Telefonbuchs, das er vorhin auf der Ablage neben dem CD-Regal entdeckt hatte. »Ja?«
»Ich bin am Verdursten. Das da hinten ist doch eine Küche, oder?«
»Ja.« Timber nickte.
»Bitte, setzen Sie für uns alle eine große Kanne Kaffee auf, während ich hier telefoniere. Es kann eine lange Show werden. Wir stehen ja erst vor unserer ersten Spielrunde.« Während er sprach, ließ Jan die dünnen Seiten des Telefonbuchs wie bei einem Daumenkino an seinem Finger vorbeigleiten und sah wieder fragend in Timbers Richtung.
»Spielrunde - dafür habt ihr doch im Radiojargon bestimmt auch einen Fachausdruck. Oder?«
»Pay Off.« Diesmal war es Flummi, der die Antwort gab.
»Pay Off«, wiederholte Jan, schlug im selben Augenblick den dicken Wälzer auf und drosch dann mit der flachen Hand auf die rechte Seite. »Ha!« Alle im Studio zuckten zusammen. »Wir starten einen Pay Off in sechzig Sekunden mit einer zufällig ausgewählten Nummer aus dem Berliner Telefonbuch, erster Band, Buchstabe >H<. Mal hören, wer der Glückliche sein wird.«
11.
Als Ira im neunzehnten Stock ans Fenster der provisorischen Verhandlungszentrale trat, konnte sie erkennen, dass der Verkehrsstau im Westen bereits bis zur Bülow-straße und im Osten bis zum roten Rathaus reichte. Im Augenblick waren siebenundsechzig Polizeibeamte damit beschäftigt, ein Areal in der Größe von etwa siebzig Fußballfeldern für den gesamten Verkehr inklusive Fußgänger abzusperren. Niemand durfte die Gefahrenzone rund um das MCB-Gebäude betreten. Es war kurz vor halb neun, in weniger als vierzig Minuten öffneten die Geschäfte in den Arkaden, und
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