Amokspiel
siebzigtausend Berliner machten sich wie jeden Tag auf den Weg, um im Glaspalast ihre Einkäufe zu erledigen. Sie würden ihr Ziel heute nicht erreichen. Genauso wenig wie die unzähligen Menschen, die zu ihren Arbeitsplätzen in beiden Teilen der City wollten, unter ihnen hochrangige Bundesbeamte und Politiker, die bei einer Bundesratssitzung oder im Parlament erwartet wurden. Noch nie war der Begriff der »Bannmeile« für das Regierungsviertel so zutreffend gewesen wie heute.
»Wie wäre es, wenn Sie endlich mit der Arbeit anfangen würden, anstatt die Aussicht zu genießen?« Ira drehte sich zu Steuer um, der im Türrahmen stand und von dort aus die Aktivitäten seiner Untergebenen beobachtete. Von Herzberg hatte den Sandsack abmontieren und den Flipper beiseite räumen lassen, um so in Diesels Büro Platz für die Grundausrüstung zu schaffen: eine mobile Computereinheit inklusive der Überwachungselektronik sowie den großen Standard-Einsatzkoffer und zwei Flipcharts. Er schloss gerade das Aufnahmegerät an die Telefonanlage an. Dabei half ihm ein Assistent mit schlohweißem Haar. Ira hatte noch nie zuvor mit ihm gearbeitet und vermutete, dass er der Protokollant war. »Wo ist der dritte Mann?«, fragte sie. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass jede Verhandlungsgruppe zu dritt agierte. Einer sprach, einer protokollierte. Der Dritte behielt die objektive Sicht von außen und übernahm die Verhandlungen, wenn der Unterhändler erschöpft war. Gespräche mit Entführern und Geiselnehmern konnten sich über viele Stunden, manchmal sogar Tage hinziehen. Die psychische Belastung war für einen Beamten allein untragbar.
»Sie sind der dritte Mann«, antwortete von Herzberg. »Der Geiselnehmer verweigert weiterhin jeden Kontakt mit unserer Verhandlungsgruppe.« Iras Puls beschleunigte sich plötzlich, als wäre sie gerade von einem Laufband gestiegen, weshalb sie Herzbergs Worte nicht kommentierte. Diese erste Kreislaufschwäche signalisierte ihr, wie definitiv fehl am Platze sie hier war, es sei denn, irgendjemand mixte ihr bald einen Drink. Herzberg nahm von seinem Platz am mobilen Einsatzcomputer aus den Telefonhörer ab und drehte sich auf seinem Bürostuhl zu Ira. »Keine Verbindung. Er geht nicht mehr ans Studiotelefon.«
»Mist«, grummelte Steuer zurück und zog sich eine Zigarette aus der Packung.
»Hey, hier wird nicht geraucht!«, bellte Diesel scherzhaft, und Ira musste grinsen. Der Geruch von dem verbrannten Papier aus seinem Mülleimer hing immer noch in der Luft.
»Versuchen Sie es weiter, Herzberg. Frau Samin muss noch vor der ersten Deadline mit ihm reden.«
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte Ira ruhig, aber bestimmt.
»Ich werde auf gar keinen Fall eine Verhandlung führen. Nicht heute. Mal ganz abgesehen davon, dass . «, sie musste sich räuspern, um einen trockenen Hustenreiz zu unterdrücken.
»Wovon abgesehen?«, wollte Steuer wissen. ... dass du meinen Entzug bald live miterleben wirst, wenn wir uns noch etwas länger unterhalten, wollte sie ihm am liebsten antworten. Stattdessen provozierte sie ihn: »Mal ganz abgesehen davon, dass Gespräche in diesem Fall gar keinen Erfolg bringen können.« In Steuers Augen blitzte es kurz auf. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Keine Verhandlung? Wir sollen stürmen? Kommt das wirklich aus Ihrem Mund, Frau Samin?«
»Quatsch. Das hätten Sie wohl gerne.«
Ira wusste genau, was Steuer von psychologischen Ver-handlungen mit Schwerstkriminellen hielt. Gar nichts. Nach seiner Meinung waren Verhandlungsführer wie Ira verweichlichte Softies, die nicht den Mumm hatten, eine Krise mit Waffengewalt zu lösen. Es widerte ihn an, einem Verbrecher auch nur den kleinsten Finger zu reichen. Geschweige denn, ihm eine Pizza oder Zigaretten vorbeizubringen, selbst wenn er dafür im Austausch eine Geisel frei bekam.
»Gut, Frau Psychologin, wir haben jetzt noch fünf Minuten bis zum ersten Cash Call. Sie wollen nicht verhandeln. Sie wollen nicht stürmen. Was ist denn dann Ihr Plan, wenn ich fragen darf?«
»Das wissen Sie nicht?«, tat Ira erstaunt. Dann sah sie kurz an die Zimmerdecke und rollte mit den Augen. »Ach, stimmt ja. In Ihrer Position sind Ihnen Tatorte nur noch vom Schreibtisch aus bekannt. Na, dann will ich Ihnen mal kurz auf die Sprünge helfen: Wir haben es hier mit einer perfekten Schulbuchsituation zu tun. Das kann sogar der da drüben erledigen.« Ira nickte in Herzbergs Richtung. »Man muss nämlich gar nichts tun. Einfach nur
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