Amokspiel
Hoffnung, eine klare Ansage zu erhalten. »Wissen Sie das nicht, Ira?«
»Nein. Ich kann mir nicht anmaßen, über Sie zu urteilen oder Ihre Gedanken zu lesen. Ich kenne Sie nicht, aber ich würde Sie gerne näher kennen lernen.«
»Das ist gut. Das ist sehr gut ...« Der Geiselnehmer lachte laut auf, dann fuhr er fort: »Ich dachte, es wäre ein ungeschriebenes Gesetz für den Verhandlungsführer, den Täter nie anzulügen?«
»Ja, das ist es.« Ira hatte darüber sogar mal einen Vortrag gehalten. Die Verhandlung bei einer Geiselnahme glich einer Beziehung. Beides konnte nur erfolgreich verlaufen, wenn es eine Vertrauensbasis gab. Und nichts zerstörte das Vertrauen gründlicher als eine vom Geiselnehmer aufgedeckte Lüge des Unterhändlers.
»Jetzt reden wir erst zwei Minuten, und ich hab Sie schon bei einer ertappt«, sprach Jan weiter. »Wie meinen Sie das?«
»Das Letzte, was Sie heute Morgen wirklich wollen, ist doch ein Gespräch mit mir. Es sei denn, ich erzähle Ihnen etwas über Ihre Tochter Sara. Richtig?« Ira sah auf den Rollcontainer unter Diesels Schreibtisch und fragte sich, ob er etwas zu trinken darin aufbewahrte.
Dann fixierte sie das hellblaue Mauspad neben ihrem Computer, um sich zu konzentrieren.
»Woher kennen Sie Sara?«, fragte sie schließlich mit fester Stimme.
»Ich kenne sie nicht. Ich habe nur, während wir hier sprechen, ihren Namen im Internet gegoogelt. >Tochter von Polizeipsychologin in Badewanne ertrunken.< Vor einem Jahr war Saras Unfall der B.Z. ganze sechs Zeilen wert.« An der Art, wie er »Unfall« betonte, hörte sie, dass er im Bilde war. Die Geschichte vom epileptischen Anfall war natürlich eine Lüge gewesen, um Sara die Obduktion zu ersparen, die bei Suizidopfern sonst automatisch angeordnet wird. Doch die Vorstellung, ein wildfremder Pathologe würde Sara aufschneiden und jedes ihrer Organe einzeln abwiegen, hatte Ira nicht ausgehalten. Götz musste damals all seine Beziehungen spielen lassen, um die wahre Todesursache in den Akten zu verschleiern. »Sie wissen also, wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen plötzlich für immer verliert.« Jan klang bei diesem Satz in Iras Ohren ehrlich betroffen. Er ist Schauspieler, erinnerte sie sich im nächsten Atemzug.
»Ja.« Ira verkrampfte sich innerlich. Einerseits war es gut, wenn sie so schnell eine persönliche Ebene zu dem Geiselnehmer aufbaute. Andererseits ging es hier um ihre tote Tochter. Der Grund, weswegen sie heute hatte Schluss machen wollen. Weswegen ich Schluss machen will! Und jetzt sprach sie mit einem unberechenbaren Psychopathen über ihre schlimmsten seelischen Wunden, der noch dazu unwissentlich Kitty in seiner Gewalt hielt. »Noch mal: Was verlangen Sie?«, fragte sie knapp und zwang sich zur Konzentration. Mit der folgenden Antwort hatte sie nicht gerechnet.
»Öffnen Sie bitte folgende Homepage: http:\\leoni1X2dD. net.«
Ohne den Hörer aus der Hand zu legen, griff Ira zur Maus, und der Bildschirmschoner verschwand vom Monitor. Dann öffnete sie den Explorer, und nur wenige Sekunden später begann der Browser, die gewünschte Website im Internet zu suchen.
Das Bild einer attraktiven, jungen Frau öffnete sich. Passend zu ihrem dichten, lockigen Haar hatte sie dunkle, braunschwarze Augen. Ein kurzer Blick genügte, um bei Ira eine Mischung aus Neid und Wehmut zu erzeugen. So hatte sie auch einmal ausgesehen, und es war gar nicht mal so lange her. Allerdings war sie selbst niemals so perfekt gewesen, wie sie sich eingestehen musste. Mit Ausnahme einer kleinen Narbe über dem Jochbein besaß diese Frau ein fast makelloses Gesicht mit leicht eu-rasischen Zügen, elegant geschwungenen Brauen und vollen Lippen, hinter denen man wohlgeformte, gerade Zähne vermutete. Letzteres konnte man auf dem Porträtfoto nicht erkennen, da die Frau sehr ernst in die Kamera blickte, ohne zu lächeln. Und trotzdem strahlte sie nicht die unnahbare Kälte aus, die schöne Frauen manchmal besitzen, wenn sie sich ihrer Attraktivität bewusst sind. Sie wirkte ernst und zugleich verletzlich. Stark und hilfesuchend. Eine Mischung, die viele Männer unwiderstehlich finden mussten, denn sie weckte sowohl den Beschützerinstinkt als auch den Romantiker. Ihre Körpergröße konnte Ira nicht einschätzen. Das Bild war kurz unter dem schmalen Hals abgeschnitten, der von einer weißen Seidenbluse mit ausladendem Kragen umrahmt wurde.
»Wer ist das?«, fragte Ira.
»Leoni Gregor!«
»Ein schöner Name.«
»Und eine
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