Amokspiel
sondern auch über den weiteren Tatverlauf: Der Geiselnehmer ist intelligent, kreativ, und er überlässt nichts dem Zufall, wie wir spätestens seit dem Intermezzo im Lüftungsschacht gelernt haben. Hinter all seinen Handlungen steckt Methode. Selbst hinter der Art und Weise, wie er seine Geiseln exekutiert. Und das ist wahrscheinlich das Auffälligste an ihm. Denn dass er systematisch tötet, ist äußerst unüblich, wie wir alle wissen.« Herzberg nickte stumm, und Ira war dankbar, dass sie ihm wenigstens diese Grundregel nicht weiter erläutern musste. Opfer waren für Geiselnehmer die beste Versicherung. Solange die Geiseln noch lebten, waren sie wie ein Pfand, das sie vor einem Zugriff bewahrte und mit dem sie sich den Weg in die Freiheit erkaufen konnten. Es kam daher, entgegen der landläufigen, von Krimiserien genährten Meinung, tatsächlich recht selten zu Geiselnahmen mit Todesfolge. Eine tote Geisel war für den Täter nutzlos.
»Wir dürfen uns von dem Spiel nicht ablenken lassen«, fuhr Ira fort. »Es sieht auf den ersten Blick vielleicht so aus wie die Tat eines Geisteskranken, aber dafür ist alles zu gut geplant. Möglicherweise handelt es sich hier um einen politisch motivierten Anschlag. Das würde die Wahl eines Radiosenders erklären. Terroristen nutzen gerne die Medienöffentlichkeit für ihre Zwecke. Dagegen spricht aber, dass er seine Forderungen nicht sofort gestellt hat. Freilassung von Häftlingen, Austausch von Geiseln, Abzug aus Krisengebieten, normalerweise sagen Extremisten sofort, was sie wollen, und setzen ein Ultimatum. Wie wir es auch drehen und wenden, noch gibt es nur eine einzige Tatsache, die wir definitiv kennen!«
»Und die wäre?«
»Er wird weiter töten, und zwar so lange, bis er sein Ziel erreicht hat. Was auch immer es sein mag.«
»Das heißt also, dass Sie Recht haben?« Aus Herzbergs zusammengekniffenen Augen schimmerte zum ersten Mal etwas Furcht hinter der Unsicherheit hervor. Ira musste kurz daran denken, dass es ganz sicher Frauen gab, die von seinem wichtigtuerischen Gehabe beeindruckt waren. Nun denn, sie gehörte definitiv nicht zu ihnen.
»Es gibt also nichts, was wir tun können?«, fragte er weiter.
Das Telefon klingelte. Es stand in der Aufladestation zwischen den beiden Computermonitoren von Ira und Herzberg. Igor hatte die Hauptstudionummer darauf umgeleitet.
»Doch«, sagte Ira und legte die Hand auf den Hörer.
»Wir müssen noch mehr über den Mann herausfinden. Und über die Tat.«
Sie zeigte auf das von ihr angelegte Word-Dokument mit der Überschrift »Geiselnehmer«.
Es klingelte zum zweiten Mal. Es war ein heller Klang, fast wie bei einem Handy oder einem billigen Radiowecker.
»Wir wissen, dass er Aufmerksamkeit braucht. Aber warum? Warum heute? Warum hier im Sender?« Das Telefon klingelte zum dritten Mal. »Wir brauchen sein Motiv.« Ira ließ es noch einmal läuten.
»Sein Motiv!«, wiederholte sie leise. Dann hob sie ab.
2.
»Hallo, ich bin Ira Samin, Ihre Unterhändlerin für heute. Mit wem spreche ich, bitte?«
»Gut, sehr gut.«
Ira hatte auf laut gestellt, damit alle die sonore Stimme des Geiselnehmers im gesamten Büro hören konnten. Trotzdem hielt sie sich zusätzlich das schnurlose Telefon an ihr linkes Ohr, um den Mann besser zu verstehen. Selbst mit der leichten Hybridverzerrung klang sein Bariton unangemessen sympathisch.
»Haben Sie Herzberg schon mein Profil erläutert?« Sie hob den Kopf und sah durch die gläsernen Bürowände zum Studiokomplex herüber. Da die Brandschutzjalousien zum A-Studio immer noch heruntergelassen waren, konnte sie nicht erkennen, was nur wenige Meter entfernt im Inneren des Sendestudios vor sich ging. Und im Nebenraum. Unter der Spüle. Von ihrem Platz aus sah sie lediglich die vorderen Nachrichten- und Serviceplätze. Normalerweise saßen um diese Uhrzeit dort mindestens zwei Personen, die abwechselnd die Nachrichten verlasen, den Wetterbericht vorbereiteten oder zum Verkehrsflieger hochschalteten. Jetzt war der gesamte Trakt verwaist.
»Ja, wir haben uns gerade über Sie unterhalten«, sagte Ira und verzog das Gesicht, als ein unangenehmer Pfeifton aus dem Nichts auftauchte und immer lauter wurde. Diesel, der es sich gerade auf einem knallgelben Sitzkissen in der gegenüberliegenden Büroecke bequem machen wollte, sprang auf und drehte an dem Knopf neben der Tür die Deckenlautsprecher leise. Dann drückte er der überlebensgroßen Blondinenpuppe auf die Brust und schaltete somit
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