Amokspiel
das Radio aus.
»Anfängerfehler«, murmelte er und schüttelte belustigt den Kopf wegen der Rückkopplung.
»Wir sind auf Sendung«, ergänzte der Geiselnehmer. »Alle können uns zuhören. Bitte stellen Sie also Ihr Radiogerät leise, Ira. Oder machen Sie es am besten gleich aus, damit es nicht wieder zu einer Störung kommt.«
»Schon erledigt.«
»Danke. Dann kann's ja losgehen.«
»Wollen Sie mir Ihren Namen sagen, damit ich weiß, wie ich Sie ansprechen darf?«
»Auf mich kommt es nicht an, Ira. Aber es ist schön, dass Sie sich an das Handbuch halten. Gute alte Schule: Sag dem Geiselnehmer, wie du heißt, aber ohne Dienstrang, damit er nicht nach einem höhergestellten Vorgesetzten verlangt. Und dann frag ihn nach seinem eigenen Namen, um so schnell wie möglich eine persönliche Beziehung aufzubauen.«
»Sie kennen sich sehr gut mit meiner Arbeit aus. Also schön, wie soll ich Sie denn nennen?«
»Noch mal: Das tut nichts zur Sache.«
»Aber irgendeinen Namen muss ich Ihnen geben, wenn wir uns länger unterhalten wollen.«
»Na schön. Wie wäre es mit Jan?«
Ira tippte den Vornamen in das Word-Dokument, das mit »Geiselnehmer« überschrieben war. »Okay, Jan, ich würde Ihnen gerne helfen, aber Sie machen es mir nicht gerade leicht, wenn Sie Stunde für Stunde eine Geisel erschießen.«
»Oh, Sie haben >Geisel< gesagt. Das macht man normalerweise doch besser nicht, oder? Wäre es nicht ungefährlicher, meine Aufmerksamkeit von den Menschen in meiner Nähe wegzulenken und mich stattdessen in ein harmloseres Gespräch zu verwickeln?«
»Normalerweise ja«, bestätigte Ira. Tatsächlich zählte das Wort »Geisel« während einer Verhandlung ebenso zu den verbotenen Wörtern wie »nein«, »aufgeben«, »Strafe«, »Verbrechen« und »Töten«. Doch hier lag der Fall ihrer Einschätzung nach anders. Sie überlegte kurz, ob sie offen mit Jan über ihre Strategien sprechen durfte, und entschied dann, dass es das Risiko wert wäre. Jan hatte anscheinend alles gelesen, was es an Literatur über Verhandlungstheorien auf dem Markt gab. Wenn sie sein Vertrauen gewinnen konnte, dann nur mit absoluter Ehrlichkeit. »Wir beide wissen, dass Sie hier ein Spiel spielen. Deshalb erwähne ich die Geiseln. Denn dadurch mache ich sie menschlich.«
»Damit sie für mich den Spielzeugcharakter verlieren?« Der Mann lachte kurz auf, und ein ehrlich amüsierter Ton schwang in seiner Stimme mit.
»Das haben Sie schön gesagt, Ira. Gut, dass man Sie gegen diese Flachpfeife von Herzberg ausgetauscht hat. Sie scheinen Ihr Fach zu verstehen.«
»Danke, Jan.«
Erleichtert sah sie, dass Götz, der gerade in das Büro gekommen war, ihr einen aufmunternden Blick zuwarf. Offenbar billigte er ihre ungewöhnliche Vorgehensweise. Ganz im Gegenteil zu Herzberg, der aussah, als ob er gerade geohrfeigt worden wäre.
»So wie es aussieht, sind Sie also jetzt der Boss im Studio?«, fragte Ira in der Hoffnung, dass sie durch die Antwort etwas über mögliche Komplizen erfahren würde. Umso erstaunter war sie, als Jan ihr ohne Umschweife eine klare Auskunft gab:
»Lassen Sie uns unsere Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten verschwenden. Ich arbeite allein. Keine Komplizen. Und um die Antwort auf Ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Ja, uns geht es allen gut. Den restlichen sieben zumindest. Mich mitgerechnet.«
»Sieben Geiseln = sechs lebend / eine tot«, schrieb Ira in das Dokument mit der Überschrift »Geiseln« und machte gedanklich einen Haken dahinter. Die Information stimmte mit den Informationen von Götz überein, der ihr den Dienstplan der Morgenshow und die Einladungsliste für die Senderführung gegeben hatte. Neben Timber und seinem Produzenten Flummi befanden sich jetzt noch eine schwangere Frau, ein junges Pärchen und ein Verwaltungsangestellter mittleren Alters in Jans Gewalt. Die siebte Geisel, der UPS-Fahrer, war tot. Ira dankte einem höheren Wesen, dass Kitty in Jans Aufzählung noch nicht enthalten war und offenbar immer noch unentdeckt unter der Spüle kauerte.
»Hören Sie, Jan, wir würden gerne Manfred Stuck aus dem Studio holen.«
»Warum? Der ist tot.«
»Wir könnten Ihnen im Gegenzug etwas hereinbringen, was Sie benötigen. Lebensmittel, Medikamente? Wie geht es Sandra Marwinski?«
»Unserer werdenden Mutter fehlt es an nichts«, antwortete Jan. »Und danke, nein. Wir alle haben ausreichend gefrühstückt. Wir brauchen nichts.«
»Was genau wollen Sie dann?«, fragte sie direkt, in der
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