Amokspiel
jedoch so schlecht gewesen, dass Ira mehrfach zurückrufen musste. Keine gute Voraussetzung für eine Verhandlung, bei der man die eigene Tochter vom Suizid abhalten will. Du wirst doch keine Tabletten nehmen, Kleines?, hatte sie gefragt.
Nein, Mami, war Saras Antwort gewesen, eine Lüge. »Bitte«, versuchte Ira erneut zu ihrer Tochter durchzudringen. »Ich möchte, dass du kurz vergisst, wie sehr du mich hasst, und mir eine einzige Frage beantwortest.« Stille am anderen Ende.
Shania Twain sang »Get a life, get a grip, get away some-where, take a trip«, und aus irgendeinem Grund fiel Ira ausgerechnet jetzt der dämliche Titel wieder ein: »Come on Over«.
Götz sah auf seine Taucheruhr, doch Ira brauchte keine subtilen Zeichen. Sie wusste auch so um den Zeitdruck. »Wo befindet sich die Leiche des UPS-Fahrers?«, fragte sie.
Die Stille wurde kurz durch ein Knacken unterbrochen. Danach folgte eine weitere Pause. Bis Katharina endlich antwortete. »Im kleinen ZGR.«
»Das ist der Zentrale-Geräte-Raum«, erklärte Götz leise, als er Iras Stirnrunzeln sah. »Das Studio hat eine Tür zu der Küche. Von der Küche wiederum geht es zu einer Terrasse und zu einem Kabuff, in dem ein Teil der Sendetechnik untergebracht ist. Modems, Geräte, die den Sound verbessern, ein Notstromaggregat.«
»Kannst du die Leiche sehen?« Ira musste die Frage zweimal stellen, weil sie beim ersten Mal vergessen hatte, die Sprechtaste zu aktivieren.
»Nein, aber ich hab gesehen, wie er ihn kaltgemacht hat.«
Katharinas Stimme hatte jetzt eine andere Klangfärbung angenommen. Aber vielleicht war es auch nur Wunschdenken einer Mutter, die lieber etwas Menschliches wie Angst statt der reinen, hasserfüllten Wut gegen sich selbst hören wollte.
»Er hat ihn in einen Leichensack gesteckt und .« Plötzlich rumpelte es, und dann war die Verbindung weg.
»Was ist da los?«, rief Ira lauter als beabsichtigt und starrte Götz an. Dieser hob beruhigend die Hände.
»Verdammt, was geht da vor ...?« Ira brüllte jetzt beinahe. Sie fühlte sich wie ein Motorradfahrer, der zu schnell in eine Kurve rast und zu spät erkennt, dass er sich doch besser einen Helm aufgesetzt hätte. Ihr entglitt gerade die Kontrolle, und diese Erkenntnis strangulierte sie nahezu. Nach zwei Sekunden, die eine Ewigkeit andauerten, brachte ein erneutes Knacken endlich die Erleichterung. »Es geht wieder los«, flüsterte Katharina so leise, dass weder Ira noch Götz sie verstehen konnten. Doch das war auch gar nicht mehr nötig. Mittlerweile hatte es auch Ira über das Radio gehört. Shania Twain war von dem charakteristischen Freizeichen eines digitalen Telefons abgelöst worden.
17.
Während Jan die ersten Ziffern der Nummer wählte, die er sich für die nächste Runde seiner perversen Variante des russischen Roulettes ausgesucht hatte, stellte Kitty das Funkgerät auf lautlos und kroch so langsam wie möglich aus ihrem Versteck. Die Tür mit den vergilbten Plastiklamellen knarrte etwas, doch das wurde garantiert von der dicken Tür zum Studio verschluckt, an die sie sich auf Zehenspitzen heranschlich. Kitty ärgerte sich über das Gespräch mit ihrer Mutter. Besser, sie hätte gar nicht mit ihr gesprochen. Oder einfach die Wahrheit gesagt! Entsetzt merkte sie, wie die Glasscheibe der Tür zum Radiostudio beschlug, weil sie viel zu dicht dran stand. Sie wich zurück, damit ihr Atem sie nicht verraten konnte.
Der Nebelschleier auf der Scheibe verflüchtigte sich langsam, und sie betete, dass Jan nicht ausgerechnet in dieser Sekunde zur Küchentür hinübersah. Sie riskierte einen schnellen Blick und war beruhigt. Der Geiselnehmer stand mit gebeugtem Kopf vor der Telefonanlage. Er drückte die letzte Ziffer, und eine kurze Weile lang passierte gar nichts. Als ob er eine Nummer im Ausland gewählt hätte.
Doch dann schien der Vermittlungscomputer endlich anzuspringen. Die Schaltstelle fand die richtige Verbindung. Ein klagendes Tuten wurde laut.
Die Wahrheit. Was, wenn du sie nie wieder sprechen wirst und ihr nie die Wahrheit über Sara gesagt hast? Kitty verdrängte den Gedanken und zählte die Freizeichen. Eins. Zwei.
Sie stellte sich vor, wie irgendwo irgendjemand an irgendeinem Ort gerade zögernd zu seinem Telefon griff. Vielleicht ein Mann. Im Auto? Oder in seinem Büro. Seine Kollegen standen um seinen Schreibtisch herum. Oder der Anruf erreichte eine Hausfrau. Sie saß zu Hause im Wohnzimmer, während ihr Mann sie noch mal an die richtige Parole
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