Amputiert
nicht von einer Krankheit herrührte; wahrscheinlich lag es daran, dass er die meiste Zeit im Haus verbrachte.
Der Doktor war leger mit einem dunkelblauen Pullover bekleidet, dessen Ärmel er zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Seine Beine verbarg die gelbe Decke, aber darunter trug er brandneue weiße Adidas-Laufschuhe. Seine Beine schienen dünn und etwas verkümmert zu sein, dafür war sein Oberkörper umso besser entwickelt. Offensichtlich verbrachte Dr. Marshall trotz seiner Behinderung unzählige Stunden im Fitnessraum. Alle Blicke folgten ihm, während er sich langsam den Weg nach vorn zum Podium bahnte.
»Guten Morgen, meine Herren«, begrüßte uns Dr. Marshall, als er sich schließlich auf der erhöhten Plattform einfand. Er ignorierte das Mikrofon und sprach stattdessen mit kräftiger, klarer Stimme zu uns. »Ich bin so froh, dass wir uns endlich kennenlernen.«
Er besaß einen leichten Akzent – eindeutig europäisch, vielleicht deutsch. Sein Tonfall war freundlich, und er schien aufrichtig glücklich darüber zu sein, uns zu treffen. Wie Drake vorhergesagt hatte, mochte ich ihn auf Anhieb. Unwillkürlich verspürte ich auch einen Anflug von Ehrfurcht. Ich hatte in meinem gesamten wertlosen Leben nie etwas vollbracht, und vor mir befand sich ein beherzter Mann, der sich aus einem Rollstuhl heraus weltweite Anerkennung verdient hatte und sich etlicher Errungenschaften rühmen konnte. Ich fühlte mich dadurch wie ein Versager erster Klasse. Ich verdiente es nicht, mich im selben Raum wie dieser Mann aufzuhalten.
Drake übernahm es, uns nacheinander vorzustellen.
»Sie müssen entschuldigen, wenn ich nicht aufstehe, um Ihnen die Hand zu schütteln«, sagte Dr. Marshall, und alle kicherten, vor allem Rotbart und Rolli, die den Scherz noch besser nachvollziehen konnten als Bill und ich.
»Zunächst möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie eingewilligt haben, heute hierher zu kommen. Mir ist bewusst, wie groß ihr Opfer sein wird, und Sie sollen wissen, ich nehme es nicht leichtfertig entgegen. Was Sie im Begriff zu tun sind, ist etwas Besonderes, nicht nur für mich, sondern für die medizinische Wissenschaft und alle Menschen, die künftig zweifellos von unseren Erfolgen profitieren werden. Ich habe zudem einen wesentlich persönlicheren Grund, Ihnen dankbar zu sein, aber darauf komme ich später zu sprechen.«
Dr. Marshall hielt inne, um Drake etwas ins Ohr zu flüstern. Drake nickte, stand auf und verließ den Raum durch eine Metalltür zu unserer Linken. Die Tür schwang zu, und ich richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Mann am Podium.
»Also gut«, sagte Dr. Marshall. »Wir haben viel zu besprechen, also fangen wir an. Wie Mr. Drake Ihnen sicher mitgeteilt hat, bin ich Chirurg und habe Jahre im öffentlichen Dienst hinter mir gelassen, um mich auf meine private Forschung zu konzentrieren. Meine Arbeit hier unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der jedes anderen Wissenschaftlers, nur finanziere ich alle Projekte selbst, ohne vor verschiedenen Bankern, Regierungsbehörden und Financiers aus der Privatwirtschaft buckeln zu müssen. Sie wären überrascht, wie viel Zeit von ungemein talentierten Leuten verschwendet wird, deren Forschungsarbeit sich verzögert, weil sie um weitere Subventionen und Darlehen betteln müssen. Und glauben Sie mir, Verzögerungen und unzureichende Mittel können in dieser Branche verheerend sein.
Zum Glück war Geld hier nie ein Thema. Infolgedessen verläuft meine Forschung tendenziell deutlich reibungsloser und schneller als die der meisten Kollegen. Wird eine weiterentwickelte oder neue Technologie verfügbar, die dem förderlich sein kann, woran ich arbeite, ziehe ich los und besorge sie mir. Die Kosten sind nebensächlich. Geld ist ziemlich bedeutungslos. Wissen ist mir erheblich wichtiger als Dollars und Cents.«
Eins stand fest: Dr. Marshall war ein guter Redner. Seine packenden Worte und die Überzeugung in seinem Tonfall bannte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. In dem kleinen Konferenzraum herrschte Stille, während er sprach, und als ich einen Blick zu meinen drei Gefährten warf, nickten sie zum Vortrag des Doktors, als glaubten sie alle genauso felsenfest, dass Wissen über schnöden Mammon zu stellen sei.
Was für ein Haufen Scheiße!
Der Mann war Milliardär – er konnte es sich leisten, so zu reden. Wir alle hingegen waren Penner, die auf der Straße lebten, immer nur zwei oder drei entfallende Mahlzeiten vom Hungertod entfernt. Keiner
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