Amputiert
von uns wollte Wissen. Wir wollten Kohle. Zwei Millionen, um genau zu sein, oder warum sonst saßen wir in diesem Raum? Ich persönlich jedenfalls war nicht gekommen, um meinen Arm zum Wohl der Menschheit zu stiften – drauf geschissen. Ich war zum Wohl von Michael Fox hier.
Allerdings klangen die Worte des Doktors aufrichtig und bewegten mich so sehr, dass ich mich dabei ertappte, genau wie die anderen an den entsprechenden Stellen der Rede zu nicken. Wer war ich, einem Milliardär zu widersprechen, erst recht einem, der im Begriff war, mich reich zu machen? Wenn Dr. Marshall meinte, wir wären zum Vorteil unserer Mitmenschen und zur Erlangung von Wissen hier – klar doch, Mann. Dann waren wir eben deshalb hier.
»Über dreißig Jahre lang«, fuhr Dr. Marshall fort, »habe ich den Großteil meiner Studien dem menschlichen Nervensystem gewidmet, oder, um es präziser auszudrücken, der Regeneration und Heilung der Nerven, wenn sie beschädigt oder versehentlich durchtrennt werden. Dinge wie Wirbelsäulenverletzungen, Lähmungen und Unfälle mit Amputationsfolge sind meine Spezialgebiete. Ich hoffe, eines Tages schreckliche Krankheiten wie Schüttellähmung, Epilepsie und Multiple Sklerose in Angriff nehmen zu können – Gebrechen, die alle durch genetisch defekte oder unfallbedingt beschädigte Nervensysteme verursacht werden –, aber Behandlungen dagegen sind momentan noch ein Wunschtraum und liegen in ferner Zukunft.
Als ich anfing, wurde ich öffentlich als Narr bezeichnet. Niemand wollte sich des Nervensystems annehmen, weil das von vornherein als verlorene Schlacht galt. Und damit meine ich, dass kein Geld damit zu holen war. Konnte man keine positiven Ergebnisse vorweisen, bekam man keine Mittel, um die Forschung weiterzufinanzieren, warum sich also die Mühe machen? Für Wissenschaftler war es einfacher, sich anderen Spezialgebieten zu verschreiben, in denen man eher Ergebnisse erzielen und Subventionen erlangen konnte. Ich sah das anders, und zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mich letztlich in die private Forschung zurückzog, nannte mich niemand mehr einen Narren.
Seither wurden große Fortschritte erzielt; nicht nur von mir, sondern von vielen hingebungsvollen Wissenschaftlern weltweit. Ich habe eben nur mehr als die meisten anderen geschafft.«
Drake kehrte unauffällig in den Raum zurück, nickte seinem Arbeitgeber bestätigend zu und nahm in der ersten Sitzreihe Platz. Als hätte Dr. Marshall auf das Zeichen gewartet, setzte er sich im Rollstuhl aufrechter hin und begann, sich die Hände zu reiben. Seine Aufregung zeigte sich unübersehbar. Als er weitersprach, ertönte seine Stimme lauter als zuvor, und sein leichter Akzent kam deutlicher zum Vorschein.
»Ich könnte wahrscheinlich noch Stunden hier sitzen und über medizinische Fortschritte und Durchbrüche referieren, allerdings vermute ich, Sie würden den Großteil davon nicht verstehen. Das ist natürlich keineswegs respektlos gemeint, aber die Einzelheiten können bisweilen etwas trocken und verwirrend sein. Ich möchte Ihnen lieber zeigen, was wir bisher erreicht haben, damit Sie sich ein Bild davon machen können, wie weit wir schon gekommen sind.
Nach dem Mittagessen unternehmen wir einen Rundgang durch die Einrichtung, aber zuvor habe ich mir die Freiheit genommen, eine Videopräsentation über einige Höhepunkte unseres Programms zusammenzustellen. Deshalb haben wir uns in diesem beengten Raum statt in einer gemütlicheren Ecke eingefunden. Mr. Drake versicherte mir, das Video sei abspielbereit, also schlage ich vor, wir sehen es uns an und besprechen die Dinge im Anschluss daran weiter. Einverstanden?«
Wir alle befanden, das sei in Ordnung – was hätten wir sonst sagen sollen? Drake wartete auf ein Nicken seines Auftraggebers, dann ging er zu einem Schalter an der Wand, um die Lichter abzudunkeln.
»Oh, einen Moment noch, Mr. Drake«, hielt ihn Dr. Marshall zurück. »Vielleicht sollte ich doch ein paar Worte darüber verlieren, was wir in dem Video sehen werden, bevor wir loslegen. Das Material, das Ihnen gleich präsentiert wird, ist etwas explizit. Ich fürchte, expliziter, als Sie es gewohnt sind. Medizinische Wissenschaft ist kein hübscher Anblick, um offen zu sein. Manchmal ist sie regelrecht abscheulich, aber dagegen lässt sich nichts machen. Falls Ihnen der Anblick von Blut Unbehagen oder Übelkeit bereitet, können Sie jederzeit die Augen schließen oder wegschauen. Jedenfalls fand ich, es wäre einfacher, wenn Sie es
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