Amputiert
dankbar zu sein. Nun, dieser persönliche Grund ist mein Sohn. Ich habe vor, ihm ihre Arme und Beine zu geben.«
Kapitel 9
»Ich werde Ihre Arme und Beine am Körper meines Sohns anbringen«, wiederholte Dr. Marshall, doch obwohl ich zweimal gehört hatte, wie er es aussprach, hatte ich immer noch Mühe zu begreifen, was er uns sagte.
»Das verstehe ich nicht«, stieß ich hervor. Meine Gefährten teilten meine Verwirrung offensichtlich. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ihr Sohn braucht alle vier unserer ... Ich meine, er besitzt keine eigenen ...
Ich konnte den Satz nicht einmal beenden. Großer Gott! Wie konnte ich diesen Mann fragen, ob sein Sohn nur aus einem Rumpf bestand? Vielleicht hatte ich die Lage völlig falsch verstanden. Womöglich hatte sein Sohn beide Arme und Beine, aber es stimmte etwas nicht damit, und er konnte sie nicht verwenden. Das klang schon eher plausibel – einen Moment lang war einfach meine Fantasie mit mir durchgegangen. Ich entschuldigte mich bei Dr. Marshall für meine Taktlosigkeit, dann beschloss ich, schleunigst die Klappe zu halten, bevor ich noch einmal ins Fettnäpfchen treten konnte.
»Schon gut, Mr. Fox«, sagte er. »In Wirklichkeit haben Sie die Situation meines Sohns völlig richtig eingeschätzt. Zumindest vorläufig besitzt er weder Arme noch Beine. Er ist oben an eines meiner Krankenhausbetten gefesselt.«
Der Doktor sah mich unmittelbar an und schien eine Erwiderung zu erwarten. Sein Tonfall war unbeschwert gewesen, aber die Art, wie er mich anstarrte, wirkte alles andere als freundlich. Andererseits deutete ich das womöglich falsch. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es sein musste, tagein, tagaus in einem Bett zu liegen, ohne sich bewegen zu können, doch es überstieg meinen Verstand. Der Doktor starrte mich noch immer – bohrend – an, und ich spürte, wie mich Kälte umhüllte, während ich krampfhaft versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, das ich sagen konnte. Da mir nichts in den Sinn kommen wollte, womit sich das Thema wechseln ließe, ich jedoch das Gefühl hatte, irgendetwas anbringen zu müssen, fragte ich: »Wie hat Ihr Sohn seine Gliedmaßen verloren? War es ein Unfall?«
»Nein, kein Unfall«, gab er zurück. »Ich habe sie ihm vor etwa drei Wochen selbst abgeschnitten.«
Einen Moment lang blickten seine Augen noch in die meinen, und ich kann aufrichtig sagen, ich hatte noch nie zuvor so kalte, stechende Augen gesehen. Sie glichen dunklen Murmeln, die beinah reptilienartig anmuteten, dann jedoch lachte er, und jede Spur von Bösartigkeit verflog schlagartig. Vielleicht war sie auch nie da gewesen.
»Das klang jetzt düsterer, als ich beabsichtigt hatte.« Der Chirurg lächelte. »Ich musste die Arme und Beine meines Sohns entfernen, aber es geschah nur zur Vorbereitung auf eine baldige Operation. Lassen Sie es mich erklären.
Der Name meines Sohns ist Andrew, Andrew Nathan Marshall, und ich liebe ihn von ganzem Herzen. Er hatte ein relativ glückliches Leben, zugleich war es aber auch schwierig. Er war von Geburt an schwer behindert, und jeder schmerzerfüllte Tag, den er erdulden musste, war meine Schuld. Ich war es, der seine Behinderungen verursacht hatte, und das konnte ich mir nie verzeihen. Jetzt hoffe ich, es endlich wiedergutmachen zu können.
Anfang der Sechziger war ich ein junger Mann, ein vielversprechender Arzt und Chirurg, der dachte, er wüsste alles. In Wirklichkeit allerdings war ich nur ein Narr erster Güte. Meine Frau Julia war mit unserem ersten Kind schwanger und litt unter entsetzlicher Morgenübelkeit. Als der brillante Arzt, für den ich mich hielt, verschrieb ich ihr das Medikament Contergan, das damals bei Schwangerschaften verwendet wurde, um die Übelkeit im ersten Trimester zu behandeln. Es gab Berichte, dass Contergan Geburtsfehler verursachte, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung. Ich dachte, ich wüsste, was für meine Frau und mein ungeborenes Kind am besten sei, doch ich irrte mich.
Andrew wurde im Sommer 1963 geboren und war ein perfektes Beispiel für das klassische Contergan-Baby. Sein Kopf und Rumpf wiesen völlig gewöhnliche Größe auf, sein Gehirn und seine Wirbelsäule waren vollständig entwickelt und in jeder Hinsicht normal, aber etwas in dem Medikament hatte die Entwicklung seiner Arme und Beine beeinträchtigt. Sie bildeten sich zwar aus, aber nicht so, wie es hätte sein sollen. Im Wesentlichen hatte er kleine, paddelartige Flossen statt Armen und etwas bessere Beine, die aber
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