Amputiert
ihm zu reden, ihm zu erklären, dass ich Lucas nicht verletzte, sondern das tat, was er wollte, aber Charlie wollte davon nichts hören. Er war nicht mehr völlig bei Verstand, und alles, was er sehen konnte, war ein Mann, der dem einzigen Gefährten wehtat, den er noch auf der Welt hatte. Unablässig brüllte er: »Lass ihn zufrieden, lass ihn zufrieden!« Dabei schlug er jedes Mal mit dem Kopf auf sein Kissen.
»Beruhig dich«, rief ich, doch als ich das rote Licht über seinem Bett aufblitzen sah, begriff ich sofort, dass Charlie keineswegs so neben der Spur war, wie ich gedacht hatte. Er hatte nicht bloß den Kopf gegen das Kissen geknallt; in Wahrheit hatte er versucht, die an seinem Bett befestigte Ruftaste zu erreichen, um Hilfe für seinen Freund zu holen. Da er nicht bemerkt hatte, dass es ihm bereits gelungen war, warf er weiter den Kopf im Takt zu seinem Gebrüll hin und her, bis das blinkende rote Licht konstant zu leuchten begann und eine tiefe, zornig klingende Stimme durch einen kleinen Lautsprecher über seinem Bett ertönte.
»Was ist denn los? Charlie, bist du das? Was, zum Henker, willst du um diese Zeit?«
»Ihr müsst uns helfen. Jemand versucht, Lucas umzubringen. Kommt her, schnell!«, heulte Charlie mit schriller Stimme, unterbrochen von fast hysterischem Schluchzen.
Wer immer am anderen Ende zuhörte, ersparte sich eine Erwiderung auf Charlies Tirade. Ich konnte nur hören, wie jemand fluchte, nach seinem Walkie-Talkie griff und vier- oder fünfmal die Mikrofontaste drückte, bevor er brüllte: »Carl? Bist du da, Carl? Schwing die Hufe rauf zu ...«
Das rote Licht über Charlies Bett erlosch, und ich konnte den Rest der Mitteilung nicht mehr hören. Allerdings konnte ich mir mühelos vorstellen, wie jedes Walkie-Talkie in der Einrichtung zum Leben erwachte und jeder Wachmann so schnell wie möglich zu diesem Raum rannte.
O Scheiße! Das gibt Ärger, Mike. Mächtig großen Ärger. Hau ab, und zwar schleunigst.
Ich hob das Kissen von Lucas’ Gesicht und hoffte, er würde es überstanden haben, doch es sollte nicht sein. Er war bewusstlos und dem Tod vermutlich nah, aber ich konnte deutlich sehen, wie sich seine Brust hob und senkte, während sein trotziger Körper mühsam weiteratmete. Da ich nicht wusste, wie viel Zeit mir blieb, bevor sich der Raum mit wütendem Wachpersonal füllen würde, konnte ich keinen zweiten Versuch riskieren, ihn zu ersticken.
»Tut mir leid, Lucas«, flüsterte ich ihm ins Ohr, bevor ich schnurstracks auf das offene Fenster zusteuerte.
Ein Zwischenstopp in meinem Zimmer, um mein Zeug zu holen, kam nicht mehr in Frage. Ich würde einfach das Spalier bis zum Boden hinunterklettern und in die umliegenden Wälder flüchten. Hoffentlich würde es mir gelingen, schneller als meine Verfolger zu rennen oder zumindest ein Versteck zu finden, bis sie sich verzogen.
Ich wollte gerade auf das Metallspalier steigen, als mich ein Geräusch von unten um ein Haar vom Fenstersims fallen ließ. Einen Stock tiefer steckte ein Wachmann mit blondem Haar und Brille den Kopf durch das offene Fenster meines Zimmers heraus und erblickte mich sofort.
»Ich sehe ihn«, sprach der Mann ruhig in sein Funkgerät. »Er ist immer noch in Ebene vier. Wiederhole ... Verdächtiger ist immer noch auf Vier.«
Das musste der Kerl sein, der früher vor meiner Tür gestanden hatte. Als das Chaos losbrach, hatte er wohl zuerst nach mir gesehen und nur ein offenes Fenster vorgefunden. Nachdem er gemeldet hatte, wo ich mich befand, steckte er das Funkgerät in seine Jacke und begann, über das Spalier auf mich zuzuklettern. Da mein Fluchtweg somit definitiv beim Teufel war, hatte ich keine andere Wahl, als ins Zimmer der Bluter zurückzukehren und das Fenster hinter mir zu verriegeln.
Wenige Sekunden später presste sich das Gesicht des Wachmanns Zentimeter von mir entfernt gegen die Scheibe, und er versuchte, mich zu überreden, das Fenster zu öffnen.
»Machen Sie auf, Mr. Fox. Sie stecken so schon in genug Schwierigkeiten. Machen Sie es nicht noch schlimmer. Öffnen Sie.«
Leck mich, Kumpel.
Ich zog stattdessen die Vorhänge zu und hoffte, er würde die Klappe halten, damit ich eine Minute nachdenken konnte. Leider blieb mir nicht so lange Zeit. Die Tür des Bluterzimmers schwang auf, die Deckenbeleuchtung ging an, und vier kräftige Kerle betraten den Raum. Alle richteten eine Pistole auf mich.
»Sofort stehen bleiben«, befahl der Mann, der dem Lichtschalter am Nächsten stand.
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