Amputiert
Niagarafällen erinnerte, wohin mich mein Vater als Kind mitgenommen hatte. Als ich den Kopf herumdrehte, konnte ich allerdings kein Wasser sehen, nur einen großen leeren Raum, in dem sich außer Drake und mir niemand befand.
»Sind Sie das, Drake?«, fragte eine vertraute Stimme.
Es war die von Dr. Marshall, aber ich konnte ihn weder sehen, noch feststellen, woher die Stimme kam.
»Ja, Sir«, antwortete Drake. »Bereit, wenn Sie es sind.«
Dr. Marshall tauchte aus dem Nichts auf, schien durch eine Ziegelsteinmauer zu gehen, bis mir der schwere, dunkle Vorhang auffiel, der hinter ihm zurückschwang. Da erkannte ich, dass an dem Raum mehr dran war, als ich sehen konnte. Dr. Marshall kam zu uns herüber und blieb unmittelbar vor mir stehen.
»Guten Tag, Mr. Fox«, begann er in unbeschwertem, fröhlichem Tonfall, was mir schlagartig eine Gänsehaut bescherte. »Wähnen Sie sich glücklich, mein Freund. Sie wurden dazu auserwählt, an etwas Unglaublichem teilzunehmen. An etwas, wenn ich das so sagen darf, Wundersamem .«
Ich begann tatsächlich zu lachen. Ich wollte es nicht, konnte jedoch nicht anders. Vielleicht war mein Gehirn bereits weich gekocht, und ich fing an, den Verstand zu verlieren, aber die Vorstellung, mich als ›glücklich‹ zu betrachten, war so unbeschreiblich lächerlich, dass ich einfach kichern musste.
»Was ist so komisch?«, fragte Dr. Marshall, wobei das freundliche Lächeln aus seinen Zügen verschwand.
Ich wusste, dass es nicht klug war, diesen Psychopathen noch mehr zu verärgern, aber es interessierte mich nicht mehr. Scheiß auf ihn!
»Sie«, gab ich zurück. »Sind Sie komplett durchgeknallt? Sie schneiden mich in Stückchen, verwandeln mich in etwas, das nicht mal mehr menschlich ist, und ich soll mich glücklich fühlen? Oh, sicher doch! Recht herzlichen Dank. Gott, sind Sie erbärmlich. Sie sind so beschissen übergeschnappt, dass es schon wieder lustig ist. Bringen Sie mich einfach um und machen Sie ein Ende.«
Nach meiner kleinen Tirade wurde es still im Raum – richtig still; niemand gab einen Laut von sich. Dr. Marshall starrte mich an. Sein Körper zitterte vor Anspannung, aus seinen Augen sprühte Hass, aber er ließ sich eine gute Minute Zeit, um sich unter Kontrolle zu bekommen, bevor er wieder das Wort ergriff.
»Zeigen Sie es ihm, Drake. Öffnen Sie den Vorhang.«
Drake eilte in den Bereich, in dem der Chirurg vor wenigen Minuten aufgetaucht war, und suchte die Mitte der Vorhänge. Er zog die rechte Hälfte auf und befestigte sie mit einer farblich zu den Vorhängen passenden, an der Wand verschraubten Schnur.
Hinter dem Vorhang herrschte im Rest des Raums Dunkelheit. Ich konnte einen großen Glasbehälter erkennen, doch das spärliche Licht von unserer Seite des Raums warf Schatten, durch die ich nicht sehen konnte, was sie mir zeigen wollten.
Dann schaltete Drake das Licht ein, und mir wurde die Luft förmlich aus den Lungen gesaugt, als ich ungläubig auf das starrte, was sich in dem Glastank befand.
Es war der nackte Körper eines Mannes in gutem Zustand – oder dessen, was mal ein Mann gewesen war. Der Kopf fehlte, und auf dem Rücken erstreckte sich vom Nacken bis knapp über den Hintern ein mächtiger Schnitt, wo die Wirbelsäule chirurgisch entfernt worden war. Aber der Körper war nicht tot. Weit gefehlt.
Unzählige winzige, bunte Drähte und Elektroden verliefen in die grausigen Wunden am Hals und Rücken des Mannes und waren vermutlich am komplexen zentralen Nervensystem angeschlossen, denn der Körper zuckte und tänzelte in dem mit Flüssigkeit gefüllten Tank wie ein Varietéschauspieler.
»Was um alles in der Welt ist das für ein Ding?«, brachte ich den Mut auf zu fragen, da meine Neugier im Moment meine Angst überstieg.
Drake lachte, kam näher zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Dieses Ding , Mike, ist etwas, das wir als ›Fleischanzug‹ bezeichnen. Im Grunde genommen ist es ein wartender Körper. Es sind die Überreste deines Kumpels Bill Smith. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, hättest es eigentlich du sein sollen.«
Bill?
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Wir dachten, es sei Mr. Smith gewesen, der sich in eurer ersten Nacht hier in Zimmer 301 geschlichen hat. Wir glaubten, er sei es gewesen, der herausgefunden hatte, dass Andrews Zimmer eine Attrappe ist, deshalb haben wir ihn uns in der nächsten Nacht geschnappt. Eigentlich hättest du es sein sollen.«
»Aber warum?«, wollte ich wissen. »Warum habt ihr ihm so etwas
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