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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ungeheure Brecciamarmoreinfassung des gasbefeuerten Kamins, der wie ein Kohlefeuer wirken sollte, und drehte sich um.
    »Magst du ein Glas Portwein?«
    Vernon merkte, daß er seit einem Sandwich mit Käse und Salatblättern um die Mittagszeit nichts zu sich genommen hatte. Oder weswegen stimmte ihn Georges pompöser Bau so gereizt? Und was sollte das heißen, daß George über seinen Tageskleidern einen seidenen Schlafrock trug? Der Mann war einfach grotesk.
    [66]  »Danke, gern.«
    Sie saßen sechs Meter voneinander entfernt, zwischen ihnen der zischende Kamin. Wäre er eine halbe Minute allein gewesen, dachte Vernon, so wäre er womöglich zum Kamingitter gekrochen und hätte mit der rechten Seite seines Schädels dagegen gehämmert. Selbst in Gesellschaft fühlte er sich nicht ganz wohl.
    »Ich habe die Verkaufsstatistik gesehen«, sagte George ernst. »Es sieht nicht gut aus.«
    »Das Tempo des Rückgangs verlangsamt sich«, lautete Vernons mechanische Antwort, sein Mantra.
    »Aber es ist immer noch ein Rückgang.«
    »Das Ruder herumzureißen braucht seine Zeit.« Vernon kostete von seinem Portwein und schützte sich mit der Erinnerung, daß George lediglich eineinhalb Prozent des Judge gehörten und er von dem Gewerbe nichts verstand. Es half auch die Erinnerung, daß sein Vermögen, sein »Verlagsimperium«, in der tatkräftigen Ausbeutung der Schwachen im Geiste wurzelte: in der Bibel versteckte Zahlenkodes sagten die Zukunft voraus, die Inkas stammten aus dem Weltraum, der Heilige Gral, die Bundeslade, die Wiederkunft des Herrn, das Dritte Auge, das Siebente Siegel, Hitler lebte gesund und munter in Peru. Es war nicht leicht, sich von George über den Lauf der Dinge belehren zu lassen.
    »Mir scheint«, sagte er, »was du jetzt brauchst, ist eine große Story, etwas, was einen Flächenbrand auslöst, etwas, dem die Konkurrenz sich anschließen muß, nur um mithalten zu können.«
    Um zu verhindern, daß die Auflage weiterhin sank, war es erforderlich, die Auflage zu erhöhen. Aber Vernon [67]  behielt seinen gleichmütigen Gesichtsausdruck bei, denn er wußte, daß George sich langsam zu den Fotos vorarbeitete.
    Vernon versuchte, ihn anzutreiben. »Am Freitag bringen wir eine gute Story über ein Paar siamesische Zwillinge, die in der Kommunalverwaltung arbeiten…«
    »Pah!«
    Es funktionierte. Plötzlich sprang George auf.
    »Das ist doch keine Story, Vernon. Das ist reiner Schnickschnack. Ich zeige dir, was eine Story ist. Ich zeige dir, weshalb Julian Garmony von einem Gericht zum anderen rennt und sich vor Angst in die Hose scheißt! Komm mit!«
    Sie gingen wieder durch die Eingangshalle, an der Küche vorbei und einen schmaleren Flur entlang, der in einer Tür endete. George schloß sie mit einem Sicherheitsschlüssel auf. Sein kompliziertes Ehearrangement hatte unter anderem darin bestanden, daß sich Molly mitsamt Gästen und Besitztümern in einem getrennten Flügel des Hauses aufhielt. So blieb ihr der Anblick ihrer alten Freunde erspart, wie sie ihre Belustigung angesichts von Georges Pomp unterdrückten, während er den Flutwellen von Mollys Unordnung entging, die die für Gäste bestimmten Räumlichkeiten des Hauses zu verschlingen drohte. Vernon hatte Molly viele Male in ihrer Wohnung besucht, dabei aber stets den Separateingang benutzt. Jetzt, als George die Tür aufstieß, verkrampfte er sich. Er kam sich unvorbereitet vor. Er hätte es vorgezogen, die Fotos in Georges Teil des Hauses zu betrachten.
    Im Halbdunkel, in den wenigen Sekunden, die George brauchte, um nach dem Lichtschalter zu tasten, verspürte [68]  Vernon zum ersten Mal die eigentliche Wirkung von Mollys Tod – die schlichte Tatsache ihrer Abwesenheit. Die Erkenntnis wurde durch vertraute Gerüche ausgelöst, die er bereits zu vergessen begonnen hatte – ihr Parfum, ihre Zigaretten, die getrockneten Blumen, die sie im Schlafzimmer aufbewahrte, Kaffeebohnen, die Backstubenwärme gewaschener und gebügelter Kleider. Er hatte ausführlich von ihr gesprochen, und er hatte auch an sie gedacht, aber nur augenblicksweise während seiner dichtgedrängten Arbeitstage oder wenn er in den Schlaf sank. In seinem Herzen hatte er sie bislang noch nicht richtig vermißt und auch nicht die Kränkung der Einsicht empfunden, daß er sie nie wieder sehen oder hören würde. Sie war seine Freundin gewesen, vielleicht die beste, die er je gehabt hatte, und sie war verschwunden. Er hätte sich vor George, dessen Umrisse bereits zu verschwimmen

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