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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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begannen, leicht lächerlich machen können. Diese besondere Form der Verlassenheit, ein schmerzliches Gefühl der Enge hinter dem Gesicht, oberhalb des Gaumens, hatte er seit seiner Kindheit, seit der Vorbereitungsschule nicht gekannt. Heimweh nach Molly. Einen Seufzer des Selbstmitleids versteckte er hinter einem lautstarken Erwachsenenhüsteln.
    Die Wohnung war noch in demselben Zustand, wie Molly sie zurückgelassen hatte, an dem Tag, als sie endlich einwilligte, in ein Schlafzimmer des Haupthauses zu ziehen, um sich von George einkerkern und pflegen zu lassen. Als sie am Badezimmer vorbeikamen, sah Vernon über einem Handtuchhalter einen Rock von ihr hängen, an den er sich erinnerte, sowie auf dem Boden ein Handtuch und einen BH . Mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor hatten sie und [69]  Vernon fast ein Jahr lang einen gemeinsamen Haushalt geführt, in einer winzigen Mansardenwohnung in der Rue de Seine. Schon damals hatten ständig nasse Handtücher auf dem Fußboden gelegen, und aus den Schubladen, die sie niemals schloß, hatten sich Katarakte von Unterwäsche ergossen, nie hatte sie das große Bügelbrett zusammengeklappt, und in dem einen überfüllten Wandschrank drängten sich die Kleider Schulter an Schulter wie Pendler in der Metro. Illustrierte, Schminke, Kontoauszüge, Perlenketten, Blumen, Slips, Aschenbecher, Einladungen, Tampons, LP s, Flugtickets, hochhackige Schuhe – es gab nicht eine Fläche, die nicht von Mollys Habseligkeiten bedeckt gewesen wäre, so daß Vernon, wenn er außerhalb des Büros zu arbeiten hatte, dazu überging, in einem Straßencafé zu schreiben. Und doch entstieg sie der Muschel dieser jungmädchenhaften Verwahrlosung jeden Morgen frisch wie die Venus von Botticelli, um sich, natürlich nicht nackt, sondern elegant zurechtgemacht, in den Büros der Pariser Vogue zu präsentieren.
    »Hier«, sagte George und ging voran ins Wohnzimmer. Auf einem Stuhl lag ein großer brauner Umschlag. Während George danach griff, hatte Vernon Zeit, sich umzuschauen. Sie konnte jeden Moment hereinspaziert kommen. Auf dem Fußboden lag mit dem Rücken nach oben ein Buch über italienische Gärten, und auf einem niedrigen Tisch standen drei Weingläser, jedes mit einem Rand aus gräulich-grünem Schimmel. Vielleicht hatte er noch selbst aus einem dieser Gläser getrunken. Er versuchte, sich seines letzten Besuchs zu entsinnen, aber die Anlässe verwischten sich. Es hatte lange Gespräche über ihren Umzug [70]  in das Haupthaus gegeben, den sie fürchtete und dem sie sich widersetzte, weil sie wußte, daß er eine Reise ohne Wiederkehr wäre. Die Alternative war ein Pflegeheim. In dem Glauben, eine vertraute Umgebung werde ihr zugute kommen, hatten Vernon und alle anderen Freunde ihr zugeraten, in Holland Park zu bleiben. Wie sehr sie sich doch geirrt hatten! Wie sich herausstellte, hätte sie selbst unter dem strengsten Regiment einer Institution mehr Freiheit gehabt als in Georges Pflege.
    George bedeutete Vernon, in einem Sessel Platz zu nehmen, und genoß den Moment, als er die Fotos aus dem Umschlag zog. Vernon mußte immer noch an Molly denken. Hatte es, als sie abtauchte, Augenblicke der Klarheit gegeben, da sie sich von den Freunden, die sie nicht länger besuchen kamen, im Stich gelassen fühlte, weil sie nicht wußte, daß George ihnen den Zutritt verweigerte? Falls sie ihre Freunde verflucht hatte, dann sicherlich auch ihn, Vernon.
    George hatte sich die Fotos – drei Stück im Format 25   x   20 – mit dem Bild nach unten in den Schoß gelegt und kostete Vernons Schweigen aus, das er für sprachlose Ungeduld hielt. Er suchte ihn noch weiter auf die Folter zu spannen, indem er langsam und bedächtig sprach.
    »Ich sollte etwas vorausschicken. Ich habe keine Ahnung, weshalb sie diese Aufnahmen gemacht hat, aber eines steht fest: Es kann nur mit Garmonys Zustimmung geschehen sein. Er blickt geradewegs in die Linse. Das Urheberrecht daran hat ihr gehört, und als ihr einziger Nachlaßverwalter verfüge nun ich darüber. Selbstverständlich erwarte ich vom Judge, daß er seine Quellen schützt.«
    [71]  Er nahm das oberste Foto hoch und reichte es hinüber. Einen Augenblick lang war außer glänzendem Schwarzweiß nichts darauf zu sehen, dann erkannte Vernon ein aus nächster Nähe aufgenommenes Porträt. Unglaublich. Vernon streckte die Hand nach dem nächsten Foto aus, einer Ganzkörperaufnahme, die fast das ganze Bild ausfüllte; dann nach dem dritten, einem

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