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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Dreiviertelprofil. Er wandte sich wieder dem ersten zu, alle anderen Gedanken waren plötzlich verflogen. Daraufhin studierte er wieder das zweite und das dritte. Jetzt erst sah er sie zur Gänze und spürte Woge um Woge der unterschiedlichsten Reaktionen: zuerst Erstaunen, gefolgt von wildem Übermut. Als er diesen unterdrückte, hatte er das Gefühl, frei über seinem Sessel zu schweben. Als nächstes empfand er eine schwere Verantwortung – oder war es Macht? Das Leben eines Menschen, oder zumindest seine Karriere, lag in seinen Händen. Und wer weiß, vielleicht war Vernon in der Lage, die Geschicke des Landes zum Guten zu wenden. Und die Auflage seiner Zeitung auch.
    »George«, sagte er schließlich. »Ich muß darüber sehr sorgfältig nachdenken.«

[72]  5
    Eine halbe Stunde später trat Vernon, den Umschlag in Händen, aus Georges Haus. Er hielt ein Taxi an, und nachdem er den Fahrer angewiesen hatte, den Taxameter einzuschalten und sich nicht vom Straßenrand zu rühren, blieb er, vom Dröhnen des Motors beruhigt, einige Minuten lang im Fond sitzen, massierte sich die rechte Seite seines Schädels und überlegte, was zu tun sei. Schließlich ließ er sich nach South Kensington fahren.
    Im Atelier brannte Licht, aber Vernon klingelte nicht. Oben auf der Treppe kritzelte er eine Mitteilung, von der er dachte, daß die Haushälterin sie wahrscheinlich als erste lesen würde, und die er deshalb unbestimmt formulierte. Er faltete sie zweimal, dann schob er sie unter der Haustür hindurch und eilte zu dem wartenden Taxi zurück. Ja, aber nur unter einer Bedingung: daß du das gleiche für mich tun würdest. V.

[73]  III

[75]  1
    Wie Clive vorhergesehen hatte, versagte die Melodie sich ihm, solange er in London, in seinem Atelier blieb. Jeden Tag unternahm er neue Versuche – kleine Skizzen, kühne Anläufe –, brachte jedoch nichts als mehr oder weniger verhüllte Zitate eigener Werke zustande. Nichts stellte sich ein, das eine eigene Gestalt, ein eigenes Gewicht gehabt und ihm jenes Moment der Überraschung geboten hätte, an dem man Originalität erkennt. Jeden Tag, wenn er den Versuch abgebrochen hatte, widmete er sich leichteren, stumpfsinnigeren Aufgaben: trug Orchesterstimmen nach, schrieb unsaubere Manuskriptseiten ab und arbeitete an der schrittweisen Auflösung der Moll-Akkorde, die den Beginn des langsamen Satzes darstellten. Drei gleichmäßig über acht Tage verteilte Termine hinderten ihn daran, zum Lake District aufzubrechen: Vor Monaten schon hatte er die Teilnahme an einem Bankett zu Wohltätigkeitszwecken zugesagt; um einem beim Rundfunk angestellten Neffen einen Gefallen zu tun, hatte er sich bereit erklärt, einen fünfminütigen Vortrag zu halten; und er hatte sich dazu überreden lassen, bei einem schulischen Kompositionswettbewerb in seinem Stadtteil als Preisrichter zu fungieren. Schließlich mußte er seine Reise um einen weiteren Tag aufschieben, weil Vernon ihn gebeten hatte, sich mit ihm zu treffen.
    [76]  In dieser Zeit studierte Clive, wenn er nicht arbeitete, seine Wanderkarten, rieb seine Wanderstiefel mit Flüssigwachs ein und überprüfte seine Ausrüstung – unerläßlich, wenn man eine Bergwanderung mitten im Winter plant. Er hätte sich seinen Verpflichtungen entziehen können, indem er sich den Freibrief des schöpferischen Geists erteilte, doch derartige Überheblichkeit war ihm verhaßt. Er hatte eine Anzahl Freunde, die, wann immer es ihnen zupaß kam, den Trumpf des Genies ausspielten und sich weder zu dieser noch zu jener Verabredung einfanden, in dem Glauben, damit den Respekt vor dem Zwingenden ihrer hohen Berufung zu vermehren, ganz gleich, welche Verstimmung sie damit vor Ort auslösten. Diesen Typen – Romanschriftsteller trieben es weitaus am schlimmsten – gelang es, Freunde und Familienangehörige davon zu überzeugen, daß nicht nur ihren Arbeitsstunden, sondern jedem Nickerchen und jedem Spaziergang, jedem Anfall von Schweigsamkeit, Depression oder Trunkenheit das entschuldigende Etikett hehrster Vorsätze anhaftete. Eine Maske für Mediokrität, Clives Meinung nach. Er zweifelte nicht an der hohen Berufung, doch schlechtes Benehmen gehörte nicht dazu. Vielleicht mußte man in jedem Jahrhundert ein, zwei Ausnahmen machen: Beethoven, ja; Dylan Thomas, ganz sicher nicht.
    Er erzählte niemandem, daß er mit seiner Arbeit steckengeblieben war. Statt dessen sagte er, er mache einen kurzen Wanderurlaub. In der Tat fand er ganz und gar nicht, daß er

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