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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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unter einer Schreibhemmung litt. Manchmal fiel einem die Arbeit schwer, und man mußte das tun, was, aller Erfahrung nach, am wirksamsten war. So blieb er denn in [77]  London, nahm an dem Bankett teil, hielt seinen Vortrag, bewertete den Wettbewerb und hatte, zum ersten Mal in seinem Leben, eine heftige Meinungsverschiedenheit mit Vernon. Erst am ersten Tag des Monats März fuhr er zur Euston Station und fand ein leeres Erster-Klasse-Abteil in einem Zug nach Penrith.
    Er genoß lange Zugfahrten wegen des besänftigenden Rhythmus, in dem sie die Gedanken wiegten – genau das Richtige nach seiner Auseinandersetzung mit Vernon. Aber es sich im Abteil bequem zu machen war durchaus nicht so leicht, wie es hätte sein sollen. Als er in düsterer Stimmung den Bahnsteig entlanggelaufen war, hatte er eine Unregelmäßigkeit in seinem Gang bemerkt – als ob ein Bein länger geworden sei als das andere. Sobald er seinen Sitzplatz gefunden hatte, zog er seinen Schuh aus und entdeckte eine schwarze Masse flachgetretenen Kaugummis, die sich tief im Zickzackprofil seiner Sohle festgesetzt hatte. Als der Zug anruckte, stocherte, schnitt und kratzte er, die Oberlippe vor Ekel hochgestülpt, immer noch mit einem Taschenmesser daran herum. Unter der Patina von Schmutz war der Kaugummi noch immer leicht rosa, fleischfarben, und sein Pfefferminzgeruch schwach, aber unverkennbar. Wie widerwärtig, dieser intime Kontakt mit einem Gegenstand aus dem Munde eines Fremden, die bodenlose Vulgarität von Leuten, die einen Kaugummi kauten und ihn, wo immer sie gerade standen, von ihren Lippen fallen ließen! Er ging sich die Hände waschen, kehrte zurück, suchte einige Minuten lang verzweifelt nach seiner Brille, ehe er sie auf dem Nebensitz fand, und dann merkte er, daß er seinen Füllfederhalter vergessen [78]  hatte. Als er seine Aufmerksamkeit endlich auf die Aussicht richtete, hatte sich seiner eine vertraute Misanthropie bemächtigt, und in der zugebauten Landschaft, die an ihm vorüberglitt, erblickte er nichts als Häßlichkeit und sinnloses Treiben.
    Wenn Clive bei der tagtäglichen Arbeit in seiner West-Londoner Gegend mit sich selbst beschäftigt war, fiel es ihm leicht, die Zivilisation für die Summe aller Künste einschließlich Design, Kochkunst, guten Weins und so fort zu halten. Aber jetzt erschien es ihm, als bestünde sie nur aus dem, was er hier vor sich sah – ganze Areale dürftiger Neubauten, deren hauptsächlicher Daseinszweck darin bestand, mit Fernsehantennen und Satellitenschüsseln versehen zu sein; Fabriken, die wertlosen, im Fernsehen beworbenen Plunder herstellten, Lastkraftwagen, die auf tristen Werksparkplätzen Schlange standen, um diesen Plunder anzuliefern; und überall sonst Straßen und die Tyrannei des Verkehrs. Es sah aus wie am Morgen nach einer feuchtfröhlichen Dinnerparty. Niemand hatte es sich so gewünscht, aber niemand war gefragt worden. Keiner plante es, keiner wollte es, aber die meisten Menschen mußten damit leben. Wer es sah, Meile um Meile, wie hätte er vermuten können, daß es je Güte oder Phantasie, daß es je Purcell oder Britten, Shakespeare oder Milton gegeben hatte? Als der Zug seine Fahrt beschleunigte und sie sich schaukelnd weiter von London entfernten, tauchten zuweilen Landschaften auf und mit ihnen die Anfänge von Schönheit oder die Erinnerung daran, bis sie Sekunden später jäh in einen Fluß übergingen, der zu einem betonierten Kanal begradigt war, oder in eine landwirtschaftliche [79]  Ödnis ohne Hecken und Bäume, und in Straßen, neue Straßen, die sich endlos, schamlos in die Ferne bohrten, als käme es lediglich darauf an, anderswo zu sein. Was die Wohlfahrt aller anderen Lebewesen auf Erden betraf, so war das Projekt Menschheit nicht einfach nur gescheitert, sondern von Anfang an ein Irrtum gewesen.
    Wenn irgend jemand schuld daran war, dann Vernon. Clive war diese Strecke schon oft gefahren, aber noch nie war ihm der Anblick so trostlos vorgekommen. Auch auf den Kaugummi oder den verlegten Füllfederhalter konnte er es nicht zurückführen. Ihr Streit vom Vorabend hallte ihm noch in den Ohren, und er machte sich Sorgen, daß das Echo ihn bis in die Berge verfolgen und seine innere Ruhe gefährden könnte. Und woran er trug, war schwerlich nur das Aufeinanderprallen von Stimmen, es war die wachsende Bestürzung über das Verhalten seines Freundes und das immer stärker werdende Gefühl, Vernon nie richtig gekannt zu haben. Er wandte sich vom Fenster ab.

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