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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Wenn er daran dachte, daß er seinen Freund erst eine Woche zuvor um einen höchst ungewöhnlichen und intimen Gefallen gebeten hatte! Welch ein Irrtum, besonders jetzt, da sich die Empfindung in seiner linken Hand vollständig verflüchtigt hatte! Eine törichte Beklemmung, ausgelöst von Mollys Begräbnis. Einer dieser gelegentlichen Anfälle von Angst vor dem Tod. Aber wie angreifbar er sich an jenem Abend gemacht hatte! Es war auch kein Trost, daß sich Vernon das gleiche für sich ausbedungen hatte; das hatte ihn nur ein paar hingekritzelte, unter der Tür hindurchgeschobene Zeilen gekostet. Vielleicht war es bezeichnend für eine gewisse… Unausgewogenheit in ihrer Freundschaft, die es [80]  schon immer gegeben hatte, deren sich Clive in seinem tiefsten Innern bewußt gewesen war und die er stets verdrängt hatte, weil er sich seiner unwürdigen Gedanken wegen verachtete. Bis jetzt. Ja, eine gewisse Einseitigkeit in ihrer Freundschaft, die, wenn er es recht bedachte, die Auseinandersetzung vom Vorabend weniger verwunderlich erscheinen ließ.
    Zum Beispiel hatte es Zeiten gegeben, es war schon lange her, da hatte Vernon ein ganzes Jahr lang bei ihm gewohnt und sich nicht ein einziges Mal anerboten, ihm Miete zu zahlen. Und traf es nicht zu, daß im großen und ganzen nicht Vernon, sondern Clive all die Jahre hindurch für Musik und Unterhaltung gesorgt hatte? Der Wein, das Essen, das Haus, die Musiker und sonstige interessante Gesellschaft, die Initiativen, die Vernon in Häuser mit lebhaften Freunden in Schottland, in die Berge Nordgriechenlands und ans Ufer von Long Island geführt hatten: Wann hatte Vernon je irgendein fesselndes Vergnügen vorgeschlagen oder arrangiert? Wann war Clive zum letzten Mal bei Vernon zu Gast gewesen? Vielleicht vor drei oder vier Jahren. Wieso hatte er sich nie richtig für den Freundschaftsbeweis bedankt, den die Aufnahme des hohen Kredits bedeutete, mit dem er Vernon über schwierige Zeiten hinweggeholfen hatte? Als Vernon an der Infektion der Wirbelsäule litt, hatte Clive ihn fast täglich besucht; als Clive auf dem Bürgersteig vor seinem Haus ausrutschte und sich den Knöchel brach, hatte Vernon seine Sekretärin mit einer Tasche voll Büchern vorbeigeschickt, übriggebliebenen Rezensionsexemplaren für die Literaturseiten des Judge.
    [81]  Um es derb auszudrücken, welchen Nutzen zog eigentlich er, Clive, aus dieser Freundschaft? Er hatte gegeben, aber was hatte er je empfangen? Was verband sie? Sie hatten Molly gemein, es gab die angehäuften Jahre und die Gewohnheiten der Freundschaft, doch in ihrem Zentrum gab es eigentlich nichts, jedenfalls nicht für Clive. Eine großzügige Erklärung dieser Unausgewogenheit hätte vielleicht Vernons Passivität und Selbstvergessenheit beschworen. Nach der vergangenen Nacht jedoch neigte Clive dazu, diese Eigenschaften lediglich als Teilelemente eines umfassenderen Tatbestands aufzufassen – Vernons Prinzipienlosigkeit.
    Vor dem Abteilfenster glitt ein Laubwald vorbei, seine winterliche Geometrie versilbert von noch nicht geschmolzenem Rauhreif. Clive nahm ihn nicht wahr. Ein Stück weiter wälzte sich ein träger Fluß zwischen braunem Riedgras hindurch, und die vereisten Weiden hinter der Schwemmebene waren von Trockenmauern eingesäumt. An den Rändern einer heruntergekommenen Stadt wurde eine weite Fläche industriellen Ödlands wieder in Wald zurückverwandelt; Schößlinge in Plastikröhren erstreckten sich fast bis zum Horizont, wo Bulldozer Ackerkrume verteilten. Doch Clive, in die Windungen und Wendungen seiner fieberhaften gesellschaftlichen Buchführung vertieft, starrte auf den leeren Sitzplatz gegenüber, und ohne es zu merken, verbog und verfärbte er die Vergangenheit durch das Prisma seiner Niedergeschlagenheit. Andere Gedanken lenkten ihn bisweilen ab, und zeitweise las er, doch das Thema seiner Reise nach Norden war dieses: die ausführliche und sorgfältige Neudefinition einer Freundschaft.
    [82]  Als er einige Stunden später in Penrith ankam, empfand er große Erleichterung darüber, dieser Grübelei zu entrinnen. Auf der Suche nach einem Taxi lief er mit seinen Taschen den Bahnsteig entlang. Bis nach Stonethwaite waren es mehr als dreißig Kilometer, und er war froh, sich ganz der Plauderei mit dem Fahrer hingeben zu können. Da es mitten in der Woche war und außerhalb der Saison, war Clive der einzige Gast im Hotel. Er hatte um das Zimmer gebeten, das er bereits drei-, viermal zuvor bezogen hatte, das

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