Amsterdam
einzige mit einem Tisch, an dem man arbeiten konnte. Trotz der Kälte öffnete er weit das Fenster, damit er beim Auspacken die unverwechselbare Winterluft des Lake District einatmen konnte – torfiges Wasser, nasser Fels, moosbewachsene Erde. Er aß allein in der Bar unter dem stieren Blick eines ausgestopften Fuchses in einer Glasvitrine, der für immer in der geduckten Haltung des Raubtiers erstarrt war. Nachdem er in völliger Finsternis einen kurzen Gang um den Hotelparkplatz gemacht hatte, kehrte er ins Haus zurück, wünschte seiner Bedienung eine gute Nacht und begab sich wieder auf sein winziges Zimmer. Er las eine Stunde lang, danach lag er im Dunkeln und lauschte dem Tosen des angeschwollenen Wildbachs. Er wußte, daß der Gedanke ihn abermals beschäftigen würde und daß es besser wäre, sich jetzt damit zu befassen, als ihn am folgenden Tag mit auf seine Wanderung zu nehmen. Was sich ihm jetzt aufdrängte, war nicht Ernüchterung. Ihm kamen Erinnerungen an ihr Gespräch, und dann etwas, was darüber hinausging; was gesagt worden war und was er Vernon gern gesagt hätte, nun da er stundenlang darüber nachgedacht hatte. Es waren Erinnerungen, und es waren [83] Phantasien: Er malte sich ein Drama aus, in dem er den besten Text sich selbst zudachte, klangvolle Verse betrübter Klarsicht, deren Anschuldigungen um so strenger und unabweisbarer wirkten, als sie dicht komponiert und emotional zurückhaltend waren.
[84] 2
Passiert war folgendes: Am späten Vormittag hatte Vernon angerufen und dabei Worte verwendet, die den von Clive in der Vorwoche geäußerten so sehr ähnelten, daß sie wie ein bewußtes Zitat, wie die spielerische Einforderung einer Schuld anmuteten. Vernon müsse mit ihm reden, es sei sehr dringend, am Telefon sei es ihm nicht möglich, er müsse ihn sehen, und zwar heute noch.
Clive zögerte. Er hatte vorgehabt, den Nachmittagszug nach Penrith zu nehmen, aber er sagte: »Na schön, komm halt vorbei, ich mache uns was zum Abendessen.«
Er änderte seine Reisepläne, holte aus dem Keller zwei Flaschen guten Burgunder und machte sich daran, etwas zu kochen. Vernon kam eine Stunde zu spät, und Clives erster Eindruck war, daß sein Freund abgenommen hatte. Sein Gesicht war lang und dünn und unrasiert, sein Mantel sah etliche Nummern zu groß aus, und als er seine Aktenmappe abstellte, um ein Glas Wein entgegenzunehmen, zitterte seine Hand.
Er schüttete den Chambertin Clos de Bèze wie Bier in sich hinein und sagte: »Was für eine Woche, was für eine schauderhafte Woche!« Dann hielt er sein Glas hin, um sich nachschenken zu lassen, und Clive, erleichtert, daß er nicht mit dem Richebourg begonnen hatte, kam der Aufforderung nach.
[85] »Heute morgen waren wir drei Stunden lang vor Gericht, und wir haben gewonnen. Man sollte annehmen, damit sei die Sache erledigt. Aber die ganze Redaktion ist gegen mich, fast bis auf den letzten Mann. Das Haus ist in Aufruhr. Es ist ein Wunder, daß wir heute abend überhaupt eine Zeitung herausgebracht haben. Zur Zeit tagt eine Gewerkschaftsversammlung, bestimmt wird ein Mißtrauensantrag gegen mich verabschiedet. Immerhin, die Betriebsleitung und das Herausgebergremium stehen hinter mir. Es ist ein Kampf auf Tod und Verderben.«
Clive deutete auf einen Stuhl, und Vernon ließ sich darauf niederplumpsen, stützte die Ellbogen auf den Küchentisch, schlug die Hände vors Gesicht und jammerte: »Diese Waschlappen. Ich versuche, ihre Arschwischzeitung und ihre verpißten Jobs zu retten. Aber lieber verlieren sie alles, als daß sie auch nur einmal einen falschen Konjunktiv verwenden. Die schweben doch in höheren Regionen. Sie verdienen nichts anderes, als zu verhungern.« Clive hatte keine Ahnung, wovon Vernon redete, sagte aber nichts. Vernons Glas war schon wieder leer. Clive füllte es nach und wandte sich dann ab, um zwei kleine Hühnchen aus dem Ofen zu heben. Vernon hievte sich seine Aktenmappe auf den Schoß. Bevor er sie öffnete, holte er zur Beruhigung tief Luft und nahm einen weiteren Schluck von seinem Chambertin. Er ließ die Verschlüsse aufschnappen und sprach mit gesenkter Stimme.
»Hör zu, ich möchte gern deine Meinung hören, nicht nur, weil du einen persönlichen Bezug dazu hast und auch schon ein bißchen darüber Bescheid weißt. Vielmehr, weil du nicht vom Gewerbe bist und ich auf die Ansicht eines [86] Außenstehenden angewiesen bin. Ich glaube, ich verliere den Verstand…«
Den letzten Satz murmelte er zu sich
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