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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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und füllte Vernons Glas. »Einhundertundfünf Pfund die Flasche.«
    Vernon stürzte das halbe Glas hinunter. »Das ist doch [92]  genau mein Argument. Du wirst doch wohl nicht auf deine alten Tage bequem und konservativ werden?«
    Clive beantwortete die spöttische Bemerkung mit einer eigenen. »Weißt du, worum es hier wirklich geht? Du machst doch für George die Drecksarbeit. Er hat dich darauf angesetzt. Du wirst ausgenutzt, Vernon, und ich bin erstaunt, daß du es nicht durchschaust. Er haßt Garmony wegen seiner Affäre mit Molly. Wenn er etwas gegen mich oder dich in der Hand hätte, würde er auch das verwenden.« Dann fügte er hinzu: »Vielleicht hat er ja sogar etwas in der Hand. Hat sie Aufnahmen von dir gemacht? Im Taucheranzug? Oder war es das Ballettröckchen? Das darf der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden.«
    Vernon erhob sich und steckte den Umschlag wieder in seine Aktenmappe. »Ich bin vorbeigekommen, weil ich auf deine Unterstützung gehofft hatte. Oder wenigstens auf ein offenes Ohr. Verflucht noch mal, mit deinen Beschimpfungen hatte ich nicht gerechnet.«
    Er ging hinaus in die Diele. Clive folgte ihm, aber nach einer Entschuldigung war ihm nicht zumute.
    Vernon öffnete die Tür und drehte sich um. Er sah ungewaschen aus, erschöpft. »Ich versteh’s einfach nicht«, sagte er leise. »Ich habe das Gefühl, du bist mir gegenüber nicht ehrlich. Was hast du denn nun wirklich einzuwenden?«
    Möglicherweise war die Frage rhetorisch gemeint. Clive trat einige Schritte auf seinen Freund zu und beantwortete sie trotzdem. »Es ist wegen Molly. Wir können Garmony nicht ausstehen, aber sie hat ihn gemocht. Er hat ihr vertraut, und sie hat sein Vertrauen geachtet. Es war etwas Privates, das nur sie angeht. Dies sind ihre Bilder, sie haben mit [93]  mir, mit dir oder deinen Lesern nichts zu tun. Sie hätte verabscheut, was du da tust. Offen gesagt, du verrätst sie.«
    Statt Vernon die Genugtuung zu verschaffen, ihm die Tür vor der Nase zuzuwerfen, drehte Clive sich um und ging zurück in die Küche, um sein Abendessen allein zu sich zu nehmen.

[94]  3
    Vor dem Hotel, an eine Bruchsteinmauer gerückt, stand eine lange Holzbank. Auf diese setzte sich Clive nach dem Frühstück, um sich die Stiefel zu schnüren. Wenngleich ihm das Schlüsselelement seines Finales immer noch nicht eingefallen war, kamen ihm doch bei seiner Suche zwei wesentliche Vorteile zustatten. Der erste war allgemeiner Natur: Er fühlte sich zuversichtlich. Sämtliche Vorarbeiten hatte er in seinem Atelier geleistet, und obwohl er nicht gut geschlafen hatte, war er froh, wieder in seiner Lieblingslandschaft zu weilen. Der zweite war besonderer Natur: Er wußte genau, was er wollte. Im Grunde arbeitete er sich von hinten vor, ahnte er doch, daß das Thema bruchstückhaft und andeutungsweise in der Musik enthalten war, die er bereits geschrieben hatte. Den richtigen Einfall würde er schon erkennen, sobald er ihm kam. In der fertigen Komposition würde sich die Melodie für das ungeübte Ohr so anhören, als sei sie in der Partitur bereits an anderer Stelle vorweggenommen oder entwickelt worden. Die richtigen Noten zu finden wäre ein Akt inspirierter Synthese. Ihm war, als kenne er sie bereits, könne sie nur noch nicht hören. Er kannte ihre lockende Süße und Melancholie. Er kannte ihre Schlichtheit, und das Vorbild war eindeutig Beethovens Ode an die Freude. Er dachte an die erste Verszeile – einige wenige aufsteigende, einige wenige abfallende [95]  Tonstufen. Ebensogut mochte es sich um ein Kinderlied handeln. Es war völlig anspruchslos und hatte doch zugleich so viel spirituelles Gewicht. Clive erhob sich und ließ sich von der Kellnerin, die zu ihm herausgekommen war, seine Wegzehrung geben. Solcherart war der erhabene Charakter seiner Mission und Ambition. Beethoven.
    Er kniete auf dem Kies des Parkplatzes nieder, um die Käsesandwiches in seinem Rucksack zu verstauen. Dann hängte er sich den Rucksack um und machte sich auf den Weg ins Tal. In der Nacht war eine Warmluftfront über die Lakes hinweggezogen, und der Rauhreif, der auf den Bäumen und der Wiese am Wildbach gelegen hatte, war bereits geschmolzen. Die Wolkendecke war hoch und gleichförmig grau, das Licht klar und konturlos, der Pfad trocken. Bessere Bedingungen konnte man sich im späten Winter gar nicht wünschen. Er schätzte, daß ihm acht Stunden Tageslicht zur Verfügung standen. Freilich wußte er, daß er den Heimweg auch mit der

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