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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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selbst, während er schon in die Aktenmappe langte und einen großen, mit Pappe verstärkten Umschlag hervorholte, dem er drei Schwarzweißfotos entnahm. Clive löschte die Flammen unter den Kochtöpfen und setzte sich. Das erste Foto, das ihm Vernon in die Hand drückte, zeigte Julian Garmony in einem schlichten, dreiviertellangen Kleid. Er posierte wie auf dem Laufsteg: Die Arme hielt er etwas vom Körper abgewinkelt und setzte einen Fuß vor den anderen, so daß die Knie leicht gekrümmt waren. Die falschen Brüste unter dem Kleid waren klein, und man konnte knapp den Rand eines BH -Trägers sehen. Das Gesicht war geschminkt, aber nicht übermäßig, denn seine natürliche Blässe kam ihm zustatten, und Lippenstift hatte den unfreundlichen, schmalen Lippen sinnlichen Schwung verliehen. Die Haare waren eindeutig die von Garmony, kurz, gewellt, mit Seitenscheitel, so daß sein Äußeres ebenso gepflegt wie ausschweifend wirkte – und leicht einfältig. Diese Aufmachung konnte nicht als Faschingskostüm oder als ein Jux vor der Kamera durchgehen. Der angespannte, selbstvergessene Gesichtsausdruck war der eines Mannes, der seine sexuellen Neigungen preisgab. Der feste Blick in die Kameralinse war bewußt verführerisch. Die Beleuchtung war gedämpft und geschickt arrangiert.
    »Molly«, sagte Clive mehr zu sich selbst.
    »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Vernon. Er beobachtete ihn gierig in Erwartung einer Reaktion, und daß Clive immer noch auf das Foto starrte, [87]  geschah zum Teil, um seine Gedanken zu verheimlichen. Was er zunächst empfand, war schlicht und einfach Erleichterung, wegen Molly. Ein Rätsel war gelöst. Das also war es, was sie an Garmony angezogen hatte, ein Leben im Verborgenen, seine Verletzlichkeit, die Vertraulichkeit, die sie stärker aneinandergekettet haben mußte. Die gute alte Molly. Bestimmt war sie voll spielerischer Einfälle gewesen, hatte ihn angespornt, ihn bestärkt in seinen Träumen, welche das Unterhaus nicht erfüllen konnte, und er hatte gewußt, daß er sich auf sie verlassen konnte. Hätte sie eine andere Krankheit gehabt, hätte sie sich die Mühe gemacht, diese Bilder zu vernichten. Hatten sie sich je aus dem Schlafzimmer hinausbegeben? In Restaurants in fremden Städten? Zwei Frauen, die zu feiern verstehen. Molly hätte gewußt, wie. Sie kannte sich aus mit Kleidern und mit Nachtlokalen; das Verschwörerische und das Vergnügliche, das Alberne und das Aufreizende daran hätte sie über alles geschätzt. Clive mußte wieder daran denken, wie sehr er sie geliebt hatte.
    »Nun?« fragte Vernon.
    Um ihm zuvorzukommen, streckte Clive die Hand nach einem anderen Bild aus. Auf diesem, einer Porträtaufnahme, war Garmonys Kleid weiblicher, seidiger. Die kurzen Ärmel und der Ausschnitt waren mit schmaler Spitze verziert. Vielleicht trug er darunter Reizwäsche. Der Aufzug war weniger gelungen, er entlarvte vollends die darunter lauernde Männlichkeit und gab die mitleiderregenden, die unmöglichen Hoffnungen seiner konfusen Geschlechtsidentität preis. Mollys Beleuchtung, so raffiniert sie war, vermochte über die Kieferknochen eines gewaltigen [88]  Schädels oder den hervortretenden Adamsapfel nicht hinwegzutäuschen. Wie er aussah und wie er, vermutlich, auszusehen vermeinte, war durchaus zweierlei. Sie hätten lächerlich sein müssen, diese Fotos, sie waren lächerlich, aber Clive war beinahe ergriffen. Wir wissen so wenig voneinander. Meistens liegen wir, wie Eisschollen, zum größten Teil unter Wasser, und nur unser sichtbares gesellschaftliches Ich ragt kühl und weiß hervor. Hier bot sich der seltene Anblick eines Mannes unter Wasser, der Anblick seines Privatlebens, seiner Irrungen und Wirrungen, seiner von der übermächtigen Notwendigkeit reiner Phantasie, reiner Gedanken, von einem nicht kleinzukriegenden Element – dem menschlichen Geist – völlig durcheinandergebrachten Würde.
    Zum ersten Mal überlegte Clive, wie es sein mochte, Garmony freundlich gesinnt zu sein. Möglich gemacht hatte es Molly. Auf dem dritten Bild trug Garmony ein kastenförmiges Jackett von Chanel, und er hielt den Blick gesenkt; auf irgendeiner inneren Leinwand seines Selbstverständnisses kam er sich wie eine spröde und plausible Frau vor; auf einen Außenstehenden jedoch wirkte der Anblick wie eine Maskerade. Mach dir nichts vor, du bist ein Mann. Er war besser dran, wenn er in die Kamera sah und uns mit seiner Verstellung konfrontierte.
    »Und?« Vernon wurde

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