Amsterdam
ungeduldig.
»Höchst sonderbar.«
Clive gab ihm die Fotos zurück. Solange er die Bilder noch vor Augen hatte, konnte er nicht klar denken. Er sagte: »Dann kämpfst du also darum, sie nicht in die Zeitung zu setzen?«
[89] Er sagte es halb stichelnd, halb schelmisch, zugleich in dem Wunsch, nicht gleich mit seinen Gedanken herausplatzen zu müssen.
Vernon starrte ihn verwundert an. »Bist du verrückt? Das ist der Gegner. Ich habe dir doch gerade gesagt, die einstweilige Verfügung ist aufgehoben worden.«
»Ach ja. Tut mir leid. Ich war nicht ganz bei der Sache.«
»Ich habe vor, sie nächste Woche zu veröffentlichen. Was meinst du?«
Clive lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich meine«, sagte er vorsichtig, »ich meine, deine Redaktion hat recht. Es ist wirklich eine scheußliche Idee.«
»Soll heißen?«
»Es wird ihn ruinieren.«
»Und ob es das wird.«
»Ich meine, persönlich.«
»Eben.«
Es herrschte Totenstille. Auf Clive stürmten so viele Einwände gleichzeitig ein, daß sie einander zu neutralisieren schienen.
Vernon schob sein leeres Glas über den Tisch, und als ihm nachgeschenkt wurde, sagte er: »Ich kapiere es einfach nicht. Der Mann ist das reinste Gift. Du selbst hast es schon so oft gesagt.«
»Er ist ein Scheusal«, pflichtete Clive ihm bei.
»Es heißt, daß er im November den Parteivorsitz übernehmen will. Es wäre entsetzlich für unser Land, wenn er Premierminister würde.«
»Das finde ich auch«, sagte Clive.
[90] Vernon spreizte die Hände. »Also?«
Wieder trat eine Pause ein. Clive starrte zu den Rissen in der Zimmerdecke empor und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich sagte er: »Verrate mir eins. Glaubst du, daß es prinzipiell verkehrt ist, wenn Männer sich Frauenkleider anziehen?«
Vernon stöhnte auf. Er fing an, sich wie ein Betrunkener aufzuführen. Er mußte schon vor seiner Ankunft einiges gekippt haben. »Ach, Clive!«
Clive ließ nicht locker. »Früher hast du die sexuelle Revolution befürwortet. Hast dich für Schwule eingesetzt.«
»Sag mal, höre ich recht?«
»Du bist für Theaterstücke und Filme eingetreten, die andere Leute verbieten wollten. Erst letztes Jahr hast du dich für die Schwachköpfe verwendet, die vor Gericht standen, weil sie sich Nägel durch die Eier getrieben hatten.«
Vernon zuckte zusammen. »Wenn du’s genau wissen willst, war es ihr Penis.«
»Handelt es sich nicht um genau die Art sexueller Ausdrucksmöglichkeiten, die du so leidenschaftlich verteidigt hast? Worin genau besteht Garmonys Verbrechen, daß es unbedingt aufgedeckt werden muß?«
»Seine Heuchelei, Clive. Er ist der Typ, der sich für die Prügelstrafe, für die Todesstrafe stark macht, der Mann mit den Familienwerten, die Geißel der Immigranten und Asylanten, der Landfahrer und der Randgruppen.«
»Das ist irrelevant«, sagte Clive.
»Von wegen irrelevant. Red doch keinen Stuß.«
»Wenn es in Ordnung ist, Transvestit zu sein, dann ist es [91] auch in Ordnung, daß ein Rassist Transvestit ist. Rassist zu sein – das ist nicht in Ordnung.«
Vernon seufzte vor geheucheltem Mitleid. »Hör mir mal zu…«
Aber Clive hatte seinen Refrain gefunden. »Wenn es in Ordnung ist, Transvestit zu sein, dann ist es auch in Ordnung, daß ein Familienvater Transvestit ist. Privat, versteht sich. Wenn es in Ordnung ist…«
»Clive! So hör mir doch zu. Du hockst den ganzen Tag in deinem Atelier und träumst von Sinfonien. Du machst dir ja keine Vorstellung, was auf dem Spiel steht. Wenn Garmony nicht umgehend gestoppt wird, wenn er im November Premierminister wird, dann haben sie eine gute Chance, im nächsten Jahr die Wahlen zu gewinnen. Weitere fünf Jahre! Noch mehr Menschen werden unter der Armutsgrenze leben, noch mehr Menschen ins Gefängnis kommen, noch mehr Menschen kein Dach über dem Kopf haben, mehr Kriminalität, mehr Straßenschlachten wie die vom letzten Jahr. Er hat sich für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ausgesprochen. Die Umwelt wird leiden, weil er lieber seinen Geschäftsfreunden gefällig ist, als die Abkommen über die Erwärmung der Erdatmosphäre zu unterzeichnen. Er will uns von Europa abkoppeln. Eine wirtschaftliche Katastrophe! Du leidest ja nicht darunter« – an dieser Stelle zeigte er in der riesigen Küche umher –, »aber für die meisten Menschen…«
»Nimm dich in acht«, knurrte Clive. »Du trinkst meinen Wein.« Er griff nach dem Richebourg
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