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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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vorübergehend, denn die Konferenz sollte jeden Augenblick beginnen, und verdammt noch mal, schon kamen Leute hereinspaziert. Er hätte Jean anweisen sollen, sie nicht einzulassen. Er liebte die Geschichten, die man sich während der Mittagspause in den Pubs von früheren Chefredakteuren erzählte: der große V. T. Halliday, du weißt schon, der seine Vormittagskonferenzen auf seinem Schreibtisch liegend abhielt. Sie mußten so tun, als bemerkten sie es nicht. Niemand wagte etwas zu sagen. Ohne Schuhe. Heutzutage waren es fade kleine Männer, emporgekommene Buchhaltertypen. Oder Frauen in schwarzen Hosenanzügen. Was war’s doch [204]  gleich, ein doppelter Gin-Tonic? V. T. hat natürlich die berühmte Titelseite entworfen. Den gesamten Text auf die zweite Seite gepackt und das Bild für sich selbst sprechen lassen. Damals haben Zeitungen noch wirklich gezählt.
    Sollen wir beginnen? Sie waren alle da. Frank Dibben und neben ihm – welch angenehme Überraschung – Molly Lane. Für Vernon war es eine Prinzipienfrage, sein Privat- und sein Berufsleben auseinanderzuhalten, und so bedachte er sie nur mit einem geschäftsmäßigen Kopfnicken. Aber was für eine wunderschöne Frau! Ein kluger Einfall von ihr, sich die Haare blond färben zu lassen. Und ein kluger Einfall von ihm, sie einzustellen. Einzig und allein aufgrund ihrer hervorragenden Arbeit für die Pariser Vogue. Die große M. L. Lane. Hat nie ihre Wohnung aufgeräumt. Nie den Abwasch besorgt.
    Ohne auch nur seinen Kopf auf den Ellbogen zu stützen, begann Vernon mit der Blattkritik. Irgendwie war ein Kissen unter seinem Kopf aufgetaucht. Was er zu sagen hatte, würde die Grammatiker freuen. Er hatte einen Artikel aus der Feder Dibbens im Sinn.
    »Ich habe es früher schon gesagt«, verkündete er. »Und ich sage es noch einmal. Das Wort ›Panazee‹ läßt sich nicht auf eine besondere Krankheit anwenden. Es ist ein Allheilmittel. Eine Panazee gegen Krebs ergibt keinen Sinn.«
    Frank Gibben hatte die Frechheit, direkt auf Vernon zuzutreten. »Da bin ich aber entschieden anderer Meinung«, sagte der stellvertretende Ressortleiter Ausland. »Krebs kann vielerlei Formen annehmen. Eine Panazee gegen Krebs ist ein durchaus gebräuchlicher idiomatischer Ausdruck.«
    [205]  Frank hatte den Vorteil einer gewissen Höhe, aber Vernon blieb ausgestreckt auf seinem Schreibtisch liegen, um zu beweisen, daß er sich nicht einschüchtern ließ.
    »Ich will das in meiner Zeitung nicht noch einmal sehen«, sagte er gelassen.
    »Aber das ist nicht mein Hauptanliegen«, entgegnete Frank. »Ich möchte, daß du meine Spesen abzeichnest.« Er hatte ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter in der Hand.
    Der große F. S. Dibben. Hat seine Spesen zu einer Kunstgattung erhoben.
    Ein unverschämtes Ansinnen. Mitten in der Konferenz! Statt sich auf einen Streit einzulassen, fuhr Vernon fort. Auch dies war für Frank bestimmt, aus demselben Artikel.
    »Wir haben das Jahr 1996, nicht 1896. Wenn du ›Umstände machen‹ meinst, dann schreibe nicht ›inkommodieren‹.«
    Zu Vernons Enttäuschung nahte sich ihm jetzt Molly, um sich für Dibben zu verwenden. Aber natürlich! Molly und Frank. Das hätte er sich denken können. Sie zupfte Vernon am Hemdsärmel, sie nutzte ihre persönlichen Beziehungen zum Chefredakteur im Interesse ihres gegenwärtigen Liebhabers. Sie beugte sich herab, um Vernon etwas ins Ohr zu flüstern.
    »Liebling, du bist ihm etwas schuldig. Wir brauchen das Geld. Wir wollen uns zusammen in dieser süßen kleinen Wohnung in der Rue de Seine einrichten…«
    Wahrhaftig, sie war eine wunderschöne Frau, und er hatte ihr noch nie widerstehen können, nicht seit sie ihm beigebracht hatte, wie man porcini anbrät.
    [206]  »Na schön. Aber schnell. Wir müssen weitermachen.«
    »An zwei Stellen«, sagte Frank. »Oben und unten.«
    Vernon unterschrieb zweimal mit »V. T. Halliday, Chefredakteur«, und es schien eine halbe Stunde in Anspruch zu nehmen. Als er endlich fertig war, fuhr er mit seinen Kommentaren fort. Molly rollte ihm den Hemdsärmel hoch, aber sie nach dem Grund zu fragen hätte eine weitere Unterbrechung bedeutet. Auch Dibben lungerte immer noch an Vernons Schreibtisch herum. Mit den beiden konnte er sich jetzt nun wirklich nicht abgeben. Er hatte zuviel zu bedenken. Sein Herz pochte, als er sich eines vornehmeren Orakelstils bediente.
    »Wenden wir uns dem Nahen Osten zu. Dieses Blatt ist wohlbekannt für seine proarabische Linie. Wir scheuen jedoch

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