Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Kriminalbeamten vorgesummt hatte und für die er eine anonyme Wandrerin zu opfern bereit gewesen war. Und zu Recht. Als die Töne anschwollen, als die gesamte Streichergruppe die Bogen hob, um das erste anhaltende Gewisper ihrer geschmeidig gleitenden Harmonien zu hauchen, stahl sich Clive leise zu einem Sitz. Er spürte, wie er in eine Art Verzückung geriet. Die Klangstruktur verdichtete sich, je mehr Instrumente in [189]  die Verschwörung der Posaune hineingezogen wurden. Wie eine ansteckende Krankheit breiteten sich Dissonanzen aus, und kleine harte Splitter – die abgewandelten Melodiefetzen, die nirgendwo hinführten – wurden in die Höhe geschleudert wie Funken, die bisweilen zusammenstießen und die ersten Andeutungen jener vorwärtsjagenden Mauer aus Klang hervorbrachten, des Tsunami, der jetzt anzusteigen begann und bald alles überrollen würde, was sich ihm in den Weg stellte, bevor er selbst am Muttergestein der Grundtonart zerschellte. Doch bevor dies geschehen konnte, schlug der Dirigent mit dem Taktstock an sein Pult, und das Orchester verstummte holprig und widerstrebend. Bo wartete, bis auch noch das letzte Instrument verklungen war, dann hob er beide Hände in Clives Richtung und rief: »Maestro, willkommen!«
    Clive stand auf, und sämtliche Mitglieder des Britischen Sinfonieorchesters drehten die Köpfe nach ihm um. Als er aufs Podium hinabstieg, schlugen die Streicher mit ihren Bogen gegen die Notenständer. Ein Trompeter intonierte ein witziges Viertonmotiv aus dem D-Dur-Konzert – Clives, nicht Haydns. Ach, Maestro auf dem Kontinent zu sein! Welch eine Wohltat! Er umarmte Giulio, schüttelte dem Konzertmeister die Hand, dankte den Musikern mit einem Lächeln, einer leichten Verbeugung und halb erhobenen Händen, einer Geste bescheidener Kapitulation, dann wandte er sich wieder dem Dirigenten zu, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er wolle seine Ansprache über das Stück nicht schon heute halten, sondern erst am Morgen, wenn das Orchester ausgeruht sei. Für den Augenblick genüge es ihm vollauf, sich zurückzulehnen und zu [190]  lauschen. Er fügte seine Beobachtung über die Klarinette und die Hörner und das piano der Pauken hinzu.
    »Ja, ja«, sagte Giulio rasch. »Hab schon gesehen.«
    Als Clive an seinen Sitzplatz zurückkehrte, fiel ihm auf, wie ernst die Gesichter der Musiker waren. Den ganzen Tag über hatten sie hart geschuftet. Der Empfang im Hotel würde ihnen bestimmt Auftrieb geben. Die Probe nahm ihren Lauf. Bo verfeinerte den Abschnitt, den Clive gerade vernommen hatte, hörte sich verschiedene Instrumentengruppen unabhängig voneinander an und bat unter anderem um stärkere Berücksichtigung der legato -Bezeichnungen. Von seinem Sitz aus versuchte Clive zu verhindern, daß seine Aufmerksamkeit auf technische Einzelheiten gelenkt wurde. Fürs erste war es Musik, die wundersame Verwandlung von Gedanken in Klänge. Er beugte sich vor, und mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf jeden Abschnitt, den Bo gelten ließ. Manchmal arbeitete Clive so angespannt an einer Komposition, daß er beinahe sein höchstes Ziel aus den Augen verlor – Genuß zu verschaffen, der ebenso sinnlich wie abstrakt war, eine Nichtsprache, deren genaue Bedeutung sich für immer dem Zugriff entzog und an dem Punkt, wo Gefühl und Intellekt verschmolzen, qualvoll in der Schwebe blieb – eine solche Nichtsprache in Luftschwingungen zu übersetzen. Gewisse Tonfolgen erinnerten ihn lediglich an die Anstrengung, die es ihn noch unlängst gekostet hatte, sie zu komponieren. Bo arbeitete jetzt am nächsten Abschnitt, weniger ein Diminuendo als ein Schwund, und in Clives Ohren beschwor die Musik die Unordnung seines Ateliers im morgendlichen Dämmerlicht herauf und die Ahnungen, die ihm [191]  über sich selbst gekommen waren und die er kaum zu denken gewagt hatte. Größe. War er ein Trottel, daß er solche Gedanken gehabt hatte? Aber es mußte doch wohl einen ersten Augenblick der Selbsterkenntnis geben, und bestimmt kam er einem immer unsinnig vor.
    Jetzt wieder die Posaune, und ein verworrenes, halb unterdrücktes Crescendo, das endlich in die letzte Wiederaufnahme der Melodie mündete, ein schmetterndes, karnevaleskes Tutti . Aber verhängnisvoll monoton. Clive stützte sein Gesicht auf die Hände. Er hatte sich zu Recht Sorgen gemacht. Es war verdorbene Ware. Bevor er nach Manchester aufgebrochen war, hatte er die Notenblätter, so wie sie waren, weggegeben. Er hatte keine andere Wahl

Weitere Kostenlose Bücher