Amsterdam
gehabt. Jetzt konnte er sich nicht mehr der exquisiten Änderung entsinnen, die er hatte vornehmen wollen. Sie hätte der Augenblick triumphaler Selbstbehauptung der Sinfonie werden sollen, der Höhepunkt all dessen, was vor der künftigen Verheerung freudig-menschlich an ihr war. Aber so wie die Melodie sich jetzt darbot, als simple fortissimo -Wiederholung, war sie buchstäblich Schwulst, falsches Pathos, ach was, ein Vakuum, das sich nur durch Rache ausfüllen ließ.
Da die Probe bald zu Ende war, ließ Bo das Orchester bis zum Schluß weiterspielen. Clive sackte in seinem Sitz zusammen. Inzwischen hörte sich für ihn alles anders an. Das Thema zerfiel in eine Flutwelle aus Dissonanzen und nahm an Lautstärke zu – aber es klang ziemlich albern, so als stimmten sich zwanzig Orchester auf den Kammerton ein. Es war überhaupt nicht dissonant. Beinahe jedes Instrument spielte dieselbe Note. Es war wie ein durchgehaltener [192] Baßton. Ein gigantischer, windstößiger Dudelsack. Clive konnte nur das A hören, das ein Instrument dem anderen, eine Instrumentengruppe der nächsten zuspielte. Plötzlich wurde ihm sein absolutes Gehör zum Verhängnis. Das A bohrte sich in seinen Kopf hinein. Er wollte aus dem Saal hasten, aber er saß genau in Giulios Blickfeld, und wenn er wenige Minuten vor dem Ende aus der eigenen Probe davonlief, wären die Auswirkungen unausdenklich. So sank er weiter in seinem Sitz zusammen, vergrub sein Gesicht in einer Haltung tiefster Konzentration und durchlitt seine Musik bis zum Ende, der vier Takte währenden Stille.
Sie hatten vereinbart, daß Clive im Rolls-Royce des Dirigenten, der vor dem Künstlereingang wartete, ins Hotel zurückfahren würde. Bo war jedoch noch mit Orchesterangelegenheiten befaßt, und so hatte Clive in der Dunkelheit vor dem Concertgebouw ein paar Minuten für sich. Er lief durch das Menschengewühl in der Van Baerlestraat. Es fanden sich bereits die Zuhörer für das Abendkonzert ein. Schubert. (Hatte die Welt von dem Syphilitiker Schubert nicht allmählich genug gehört?) An einer Straßenecke blieb er stehen und atmete die milde Amsterdamer Luft ein, die immer schwach nach Zigarrenqualm und Ketchup zu riechen schien. Er kannte seine Partitur gut genug, er wußte, wie viele As sie enthielt und wie der Abschnitt in Wirklichkeit klang. Eben hatte er eine akustische Halluzination gehabt, eine Illusion – oder eher eine Desillusion. Daß die Variation fehlte, hatte sein Meisterwerk ruiniert, und falls überhaupt möglich, war er sich inzwischen über die Pläne, die er geschmiedet hatte, klarer denn je. Er fühlte sich nicht länger von Wut getrieben, von Haß oder Ekel, [193] oder von der Notwendigkeit, Wort zu halten. Sein Vorhaben war vertraglich geregelt und besaß die amoralische Unausweichlichkeit reiner Geometrie. Er hatte keinerlei Gewissensbisse.
Im Wagen unterrichtete ihn Bo über die geleistete Arbeit, die vielen Abschnitte, die sich mühelos vom Blatt spielen ließen, und die ein oder zwei, die er am nächsten Tag werde auseinandernehmen müssen. Obwohl er sich ihrer Unvollkommenheiten bewußt war, wollte Clive, daß der große Dirigent seine Sinfonie mit einem hohen Kompliment bedachte, und färbte seine Frage dementsprechend: »Finden Sie, daß die ganze Komposition gut zusammenhängt? Strukturell, meine ich?«
Giulio beugte sich vor, um die Glaswand zuzuschieben, die sie von seinem Chauffeur trennte.
»Sie ist gut, alles ist gut. Aber unter uns gesagt…« Er senkte die Stimme. »Ich glaube, die zweite Oboe, das junge Mädchen, ist sehr schön, nur ist ihr Spiel nicht einwandfrei. Glücklicherweise haben Sie ja nichts Schwieriges für sie geschrieben. Sehr schön. Sie geht heute abend mit mir essen.«
Während der restlichen Fahrt schwelgte Bo in Erinnerungen an die Europatournee des Britischen Sinfonieorchesters, die sich ihrem Ende zuneigte, und Clive erinnerte ihn an eine Wiederaufführung seiner Symphonischen Derwische in Prag, die letzte Gelegenheit, bei der die beiden zusammengearbeitet hatten.
»Ach ja«, rief Bo aus, als der Wagen vor dem Hotel vorfuhr und ihm der Schlag aufgehalten wurde. »Ich erinnere mich noch. Ein herrliches Werk! Der Erfindungsreichtum der Jugend, so schwer wiederzuerlangen, was, Maestro?«
[194] Im Foyer trennten sie sich, Bo, um sich kurz an der Rezeption zu zeigen, Clive, um einen Umschlag entgegenzunehmen. Man teilte ihm mit, Vernon sei eine halbe Stunde zuvor eingetroffen und zu einer Besprechung
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