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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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gegangen. Die Cocktailparty für Orchestermitglieder, Freunde und Vertreter der Presse wurde in einer langgestreckten, von Lüstern erleuchteten Galerie im hinteren Teil des Hotels gegeben. An der Tür stand ein Kellner mit einem Tablett. Clive nahm ein Glas für Vernon und eines für sich, dann zog er sich in eine menschenleere Ecke zurück, wo er sich auf einem gepolsterten Fenstersitz niederließ. Er las die Anweisungen des Arztes durch und riß ein Briefchen mit weißem Pulver auf. Von Zeit zu Zeit blickte er zur Tür. Als Vernon ihn Anfang der Woche angerufen hatte, um sich dafür zu entschuldigen, daß er ihm die Polizei auf den Hals gehetzt hatte – ich war ein Idiot, Arbeitsbelastung, ein Alptraum von einer Woche und so weiter –, und besonders, als er ihm vorgeschlagen hatte, nach Amsterdam mitzukommen, um die Aussöhnung zu besiegeln, er habe geschäftlich ohnehin dort zu tun, hatte Clive ihm eine glaubhaft huldvolle Antwort gegeben, doch als er den Hörer auf die Gabel legte, hatten ihm die Hände gezittert. Sie zitterten auch jetzt wieder, als er das Pulver in Vernons Champagner schüttete. Dieser zischte kurz auf, dann beruhigte er sich wieder. Mit dem kleinen Finger wischte Clive den gräulichen Schaum ab, der sich am Rand des Glases gesammelt hatte. Dann erhob er sich und nahm in jede Hand ein Glas, Vernons in die rechte, sein eigenes in die linke. Es war wichtig, sich das zu merken. Vernons war das rechte. Auch wenn er unrecht hatte.
    [195]  Als Clive sich einen Weg durch das Cocktailpartygebrüll der Musiker, Kulturbeamten und Kritiker bahnte, beschäftigte ihn nur noch ein Problem: wie er Vernon dazu überreden konnte, das Getränk zu sich zu nehmen, bevor der Arzt eintraf. Und zwar dieses und kein anderes. Vielleicht war es am besten, ihn an der Tür abzufangen, bevor er nach einem der Gläser auf dem Tablett griff. Als er sich an der lärmenden Blechbläsergruppe vorbeischob, rann ihm Champagner über die Handgelenke. Um zu vermeiden, daß er an die Kontrabässe geriet, die, im Wetteifer mit den Paukisten, bereits betrunken schienen, mußte er die ganze Galerie durchmessen. Endlich gelangte er zur gemäßigten Bruderschaft der Geigen, die den Querflöten und dem Pikkolo gestattet hatten, sich zu ihnen zu gesellen. Hier gab es mehr Frauen, die eine beruhigende Wirkung ausübten. Sie standen in leise trällernden Duos und Trios umher, die Luft war geschwängert von ihrem Parfum. Auf einer Seite erörterten drei Männer flüsternd Flaubert. Clive fand ein freies Fleckchen auf dem Teppichboden, von wo er einen ungehinderten Blick auf die Flügeltüren hatte, die ins Foyer hinausführten. Früher oder später würde jemand auf ihn zutreten und sich mit ihm unterhalten wollen. Früher. Es war dieses kleine Arschloch Paul Lanark, der Kritiker, der Clive den Górecki der denkenden Bevölkerung genannt hatte, nur um seinen Ausspruch später öffentlich zurückzunehmen: Górecki sei der Linley der denkenden Bevölkerung. Ein Wunder, daß er die Stirn hatte, auf ihn zuzugehen.
    »Ah, Linley. Ist eins davon für mich?«
    »Nein. Und ziehen Sie gefälligst Leine.«
    Er wäre nur allzu froh gewesen, Lanark das Getränk in [196]  seiner Rechten zu überreichen. Clive wandte sich halb ab, doch der Kritiker war beschwipst und wollte sich einen Spaß erlauben.
    »Habe von Ihrem neuesten Werk gehört. Heißt es wirklich Millenniumssinfonie ?«
    »Nein. Den Namen hat ihm die Presse verpaßt«, erwiderte Clive steifleinen.
    »Habe schon viel davon gehört. Es heißt, Sie hätten ’ne ganze Masse bei Beethoven geklaut.«
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«
    »Ich nehme an, Sie sagen dazu Anleihe. Oder postmodernes Zitat. Aber wollten Sie nicht vormodern sein?«
    »Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, gebe ich Ihnen eins auf Ihre dämliche Fresse.«
    »Dann reichen Sie mir lieber eins von den Gläsern, damit Sie wenigstens eine Hand frei haben.«
    Als Clive sich umsah, wo er die Getränke abstellen könnte, sah er Vernon mit einem breiten Lächeln auf sich zukommen. Leider hatte auch dieser zwei volle Gläser bei sich.
    »Clive!«
    »Vernon!«
    »Ah.« Lanark heuchelte Lobhudelei. »Der Floh höchstpersönlich.«
    »Sieh mal«, sagte Clive. »Ich hatte schon ein Glas für dich.«
    »Und ich eins für dich.«
    »Na dann…«
    Beide reichten Lanark eines ihrer Gläser. Dann bot Vernon sein Glas Clive an, und dieser seines Vernon.
    [197]  »Prosit!«
    Vernon nickte und warf Clive einen bedeutungsvollen Blick zu, dann

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