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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Woche lang nicht mehr an seine Arbeit dachte, brachte er es vielleicht fertig, sich in Susie zu verlieben. Sie war ein guter Kerl, geradlinig, eine treue [200]  Seele, sie würde zu ihm halten. Bei dem Gedanken überkam ihn plötzlich eine tiefe Zuneigung zu sich selbst, als sei er genau der Mensch, zu dem man halten müsse, und er spürte, wie ihm eine Träne über den Wangenknochen kullerte und sein Ohr kitzelte. Er konnte sich nicht damit abgeben, sie abzuwischen. Und es war ja auch nicht nötig, denn wer kam da durch das Zimmer auf ihn zu? Molly, Molly Lane! Mit einem Typen im Schlepptau. Ihr frecher, kleiner Mund, die großen, schwarzen Augen und eine neue Haarfrisur – ein Bubikopf – schienen genau richtig. Was für eine wunderbare Frau!
    »Molly!« konnte Clive eben noch krächzen. »Es tut mir leid, ich komme nicht hoch…«
    »Armer Clive.«
    »Ich bin so müde…«
    Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn. »Liebling, du bist ein Genie. Die Sinfonie ist die reinste Magie.«
    »Du warst bei der Probe? Ich habe dich gar nicht gesehen.«
    »Du warst zu beschäftigt und zu erhaben, um mich zu bemerken. Schau, ich habe jemanden mitgebracht, den ich dir vorstellen möchte.«
    Seinerzeit hatte Clive die meisten Liebhaber Mollys kennengelernt, diesen aber konnte er nicht recht einordnen.
    Molly, in Gesellschaft wie immer äußerst gewandt, beugte sich zu Clive und murmelte ihm etwas ins Ohr.
    »Du bist ihm schon begegnet. Das ist Paul Lanark.«
    »Ach ja, natürlich. Mit dem Bart habe ich ihn gar nicht erkannt.«
    »Die Sache ist die, Clivey-Herzchen, er hätte gern dein [201]  Autogramm, aber er ist zu schüchtern, dich darum zu bitten.«
    Clive war entschlossen, Molly jeden Gefallen zu tun und Lanark die Befangenheit zu nehmen.
    »Nein, nein. Ich habe nichts dagegen.«
    »Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte Lanark und schob ihm Füllfederhalter und Papier hin.
    »Wirklich, Sie brauchen sich nicht zu genieren.« Clive kritzelte seinen Namenszug.
    »Und hier bitte auch, wenn es Ihnen recht ist.«
    »Nein, es macht mir wirklich nichts aus, ganz und gar nicht.«
    Die Schreibanstrengung war fast zuviel für ihn, und er mußte sich zurücklehnen. Molly schob sich näher an ihn heran.
    »Liebling, ich muß dir eine kleine Gardinenpredigt halten, danach werde ich die Sache nie wieder erwähnen. Aber weißt du, damals im Lake District war ich wirklich auf deine Hilfe angewiesen.«
    »O Gott! Ich wußte nicht, daß du das warst, Molly.«
    »Immer denkst du zuerst an deine Arbeit, und vielleicht hast du ja recht.«
    »Ja. Nein. Ich meine, wenn ich gewußt hätte, daß du das warst, hätte ich’s dem Kerl mit dem dünnen Gesicht aber gezeigt.«
    »Natürlich hättest du das.« Sie legte ihm ihre Hand aufs Handgelenk und leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. Was für eine Frau!
    »Mein Arm ist so heiß«, flüsterte Clive.
    »Armer Clive. Deswegen rolle ich dir doch auch den [202]  Ärmel hoch, Dummerchen. So, Paul möchte dir jetzt zeigen, was er wirklich von deinem Werk hält, indem er dir mit einer großen Nadel in den Arm sticht.«
    Der Musikkritiker tat genau das, und es schmerzte. Manches Lob tat eben weh. Aber wenn Clive in seinem Leben eines gelernt hatte, dann, wie man ein Kompliment entgegennahm.
    »Vielen Dank auch«, jodelte er mit einem Winseln. »Sie sind zu liebenswürdig. Ich selbst stelle ja keine großen Behauptungen auf, aber jedenfalls freut es mich, daß es Ihnen gefällt, wirklich, tausend Dank…«
    Der Komponist hob den Kopf, und aus der Sicht des holländischen Arztes und der holländischen Krankenschwester sah es ganz so aus, als versuche er, von seinem Kopfkissen aus die allerbescheidenste Verbeugung zu machen, bevor er die Augen schloß.

[203]  5
    Zum ersten Mal an diesem Tag war Vernon allein. Sein Plan war einfach. Leise schloß er die Tür zum Vorzimmer, schleuderte seine Schuhe von sich, stellte das Telefon ab, fegte die Papiere und Bücher von seinem Schreibtisch – und legte sich darauf. Bis zur Vormittagskonferenz waren es noch fünf Minuten, und es schadete nichts, ein kleines Nickerchen zu halten. Das hatte er schon oft getan – und es war doch wohl im Interesse der Zeitung, daß er in Hochform blieb. Während er es sich bequem machte, sah er sich schon als massige Statue, die das Foyer des Redaktionsgebäudes beherrschte, eine gewaltige liegende Gestalt, in Granit gehauen: Vernon Halliday, Mann der Tat, Chefredakteur. Ruhend. Aber doch nur

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