Amy on the summer road
Städten, Bundesstaaten oder Ländern. Meine Eltern hatten auf ihrer Hochzeitsreise mit dem Sammeln angefangen und es bis vor Kurzem beibehalten, als meine Mutter vor ein paar Monaten einen Vortrag bei einer Konferenz in Montana hielt. Von
dort hatte sie einen himmelblauen rechteckigen Magneten mit dem Aufdruck BIG SKY COUNTRY mitgebracht.
»Meine Eltern ...« Ich hörte, wie meine Stimme bei diesem Wort einknickte. Worte, die für mich so selbstverständlich gewesen waren, hatten sich plötzlich in böse Fallstricke verwandelt, über die ich immer wieder stolperte. Roger hatte sich wieder dem Kühlschrank zugewandt und tat so, als habe er nichts gemerkt. »Sie«, fügte ich dann hinzu, »äh ... haben so was gesammelt. Von allen Orten, an denen sie mal waren.«
»Wow«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um den Kühlschrank wie ein Kunstwerk in seiner ganzen Schönheit zu betrachten. »Voll beeindruckend. Ich bin noch nie irgendwo gewesen.«
»Echt wahr?«, fragte ich erstaunt.
»Echt wahr«, antwortete er, ohne den Blick vom Kühlschrank abzuwenden. »Nur Kalifornien und Colorado. Ganz schön mager, was?«
»Nee, wieso denn? Ich bin bisher auch kaum aus Kalifornien rausgekommen.«
Das war mir eigentlich derart peinlich, dass ich es außer Julia noch nie jemandem erzählt hatte. Ich hatte unser Land exakt ein Mal verlassen, als wir einen total verregneten Sommer in den Cotswolds in England verbrachten, wo meine Mutter für ein Buch recherchieren musste. Immer wenn ich mich beschweren wollte, hat mir meine Mutter erklärt, dass wir in andere Staaten reisen würden, sobald wir alles besichtigt hätten, was es in Kalifornien zu sehen gab.
»Ach, du auch nicht?« Roger grinste mich an, woraufhin ich sofort und ganz automatisch meine Füße anstarren musste.
»Na, da bin ich ja beruhigt. Ich rechtfertige das immer damit, dass Kalifornien ziemlich groß ist. Deutlich blöder wäre es zum Beispiel, wenn man noch nie über New Jersey hinausgekommen wäre oder so.«
»Ich dachte eigentlich ...«, fing ich an und bereute es augenblicklich. Eigentlich wollte ich die Antwort ja gar nicht wissen, wieso fragte ich also? Aber da ich nun schon mal angefangen hatte, räusperte ich mich und beendete meine Frage: »Also, meine Mutter hat mir erzählt, dass dein Vater in Philadelphia lebt und du diese Fahrt hier deshalb machst.«
»Ja, das stimmt«, antwortete Roger. »Ich bin halt bloß noch nie dort gewesen. Er kommt ein paarmal im Jahr her, wenn er beruflich hier zu tun hat.«
»Aha«, sagte ich. Ich sah zu ihm hoch und stellte fest, dass er immer noch den Kühlschrank fixierte. Während ich ihn beobachtete, veränderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, und ich vermutete, dass er gerade den Programmzettel entdeckt hatte, der links unten hinter dem Magneten ITHACA IS GORGES! klemmte. Jedes Mal, wenn ich an den Kühlschrank ging, hatte ich versucht, nicht hinzusehen – ohne Erfolg. Aber ihn abzunehmen hatte ich irgendwie auch nicht fertiggebracht.
Er war auf beigefarbenen Karton gedruckt und vorn war ein Foto von meinem Vater darauf, das jemand mal im Unterricht von ihm gemacht hatte. Es war zwar schwarz-weiß, aber man konnte erkennen, dass er die Krawatte mit den kleinen schlappohrigen Hunden trug, die ich ihm zum letzten Vatertag geschenkt hatte. Er lachte an der Kamera vorbei
und hatte Kreidestaub an den Händen. Unter dem Bild stand: BENJAMIN CURRY: EIN ERFÜLLTES LEBEN.
Roger schaute zu mir herüber, und ich wusste, dass er gleich eine Variante des immer gleichen Satzes von sich geben würde, den ich in den letzten drei Monaten ständig zu hören bekam. Dass es ihm schrecklich leidtäte. Wie tragisch das doch alles war. Dass er gar nicht wusste, was er sagen sollte. Ich wollte es einfach nicht mehr hören. All diese Worte halfen kein bisschen weiter, doch wie hätte er das verstehen können?
»Wir sollten jetzt los«, sagte ich deshalb, um ihm zuvorzukommen. Ich griff nach dem Henkel meines Koffers, aber bevor ich ihn anheben konnte, stand Roger schon neben mir und nahm ihn mir aus der Hand.
»Den nehm ich schon mal mit«, verkündete er und trug ihn zur Haustür hinaus. »Ich warte im Auto.« Dann klappte die Tür, und ich sah mich hektisch in der Küche um, auf der Suche nach etwas, mit dem ich den Moment hinauszögern konnte, von dem an wir beide vier Tage zusammen im Auto zubringen mussten. Ich nahm den Teller, den ich zum Trocknen in den leeren Geschirrspüler gestellt hatte, räumte ihn in den
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