Amy on the summer road
früher«, erklärte er, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. »Ich erinnere mich noch an dich, als wir klein waren, an dich und deinen Bruder. Aber die roten Haare hast du immer noch.«
Verlegen griff ich mir an den Kopf. Charlie und ich hatten früher die gleiche Haarfarbe gehabt, was uns die Leute ständig unter die Nase reiben mussten – als ob wir das nicht selber mitgekriegt hätten. Im Laufe der Jahre waren Charlies Haare dann dunkler geworden, eher kastanienbraun, während meine feuerrot geblieben waren. Bis vor Kurzem war mir das egal gewesen. In letzter Zeit erregte ich damit aber offenbar Aufmerksamkeit, und das war nun wirklich das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte. Ich klemmte mir die Haare hinter die Ohren und bemühte mich, nicht dran zu ziehen. Vor ungefähr einem Monat hatten sie nämlich angefangen auszufallen, was mir gar nicht gefiel, aber ich versuchte, nicht allzu viel dran zu denken. Ich sagte mir, das komme vom Prüfungsstress oder vom Eisenmangel aufgrund meiner stark pizzalastigen Ernährung. Aber meistens versuchte ich einfach, mir die Haare nicht so oft zu bürsten, in der Hoffnung, dass es von alleine wieder aufhören würde.
»Oh«, sagte ich, als ich merkte, dass Roger auf eine Reaktion von mir wartete. Anscheinend waren mir selbst die banalsten
Gesprächsregeln entfallen. »Äh, ja. Genau, die roten Haare. Die von Charlie sind jetzt ein bisschen dunkler, aber er ist... also ... gerade nicht da.« Meine Mutter hatte keinem etwas von Charlies Entzug gesagt und mir ans Herz gelegt, stattdessen die von ihr erfundene Geschichte zu erzählen. »Er ist in North Carolina«, fügte ich daher hinzu. »Bei einem Sommerkurs.« Ich presste die Lippen zusammen, wandte den Blick ab und wünschte mir, dass er einfach verschwinden würde, damit ich wieder ins Haus konnte, wo keiner versuchte, sich mit mir zu unterhalten und wo ich allein war. Ich war total aus der Übung, was Unterhaltungen mit süßen Jungs anging. Überhaupt war ich es nicht mehr gewohnt, mit irgendwem zu reden.
Direkt nachdem es passiert war, habe ich kaum etwas gesagt. Ich wollte nicht darüber sprechen und auch nicht gefragt werden, wie ich mit allem klarkam. Meine Mutter oder Charlie haben es dann auch gar nicht erst versucht. Vielleicht haben die beiden ja miteinander geredet, aber was mich anging, war totale Funkstille. Was nachvollziehbar war – schließlich haben sie mir bestimmt die Schuld daran gegeben. Und ich selber ja auch, von daher war es nicht verwunderlich, dass wir am Küchentisch nicht gerade unsere Gefühle voreinander ausgebreitet haben. Also ging es beim Essen meistens ziemlich schweigsam zu, und Charlie war entweder verschwitzt und hibbelig oder schwankte mit glasigem Blick vor sich hin, während meine Mutter stur auf ihren Teller starrte. Das Hin- und Herreichen von Schüsseln und Beilagen und das anschließende Schneiden und Kauen kostete derart viel Zeit und Konzentration, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen
konnte, wie wir uns früher dabei auch noch unterhalten konnten. Und wenn ich gelegentlich doch etwas sagen wollte, machte der leere Stuhl links neben mir den Impuls sofort zunichte.
In der Schule riefen mich die Lehrer im ersten Monat danach ganz bewusst nicht auf, und irgendwann hatten sie sich wohl so daran gewöhnt, dass sie mich auch weiterhin in Ruhe ließen. Offenbar können die Leute das Bild, das sie von jemandem haben, ziemlich schnell ändern, sodass sich anscheinend keiner von ihnen mehr daran erinnerte, wie oft ich mich früher gemeldet und zu Sachen wie dem chinesischen Boxeraufstand oder dem Symbolismus in Fitzgeralds Roman The Great Gatsby meinen Senf dazugegeben hatte.
Meine Freunde begriffen in null Komma nichts, dass ich nicht darüber reden wollte. Und da wir nicht darüber sprachen, merkten wir bald, dass wir eigentlich über gar nichts mehr reden konnten. Also gaben wir derartige Versuche schnell wieder auf, und nach einer Weile wusste ich nicht mehr, ob ich ihnen aus dem Weg ging oder sie mir.
Einzige Ausnahme war Julia. Ihr hatte ich nicht erzählt, was passiert war. Mir war klar, dass sie mich damit nicht so einfach davonkommen lassen und bestimmt verdammt hartnäckig sein würde. Und so war es auch. Natürlich hatte sie es trotzdem rausgefunden und mich danach ständig angerufen. Aber ich habe sie immer nur auf die Mailbox sprechen lassen. Irgendwann wurden ihre Anrufe weniger, aber stattdessen schrieb sie mir massenhaft Mails. Alle paar Tage kamen
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