An den Feuern von Hastur - 9
Lorill das schw ä chere laran besaß, denn heutzutage w ü rde es, auch wenn Frieden im Land herrschte, einem m ä nnlichen Hastur nicht erlaubt werden, einen so vom Leben zur ü ckgezogenen Beruf wie den eines
Matrix-Arbeiters zu ergreifen, es sei denn, er stellte etwas so ü berfl ü ssiges dar wie einen siebten Sohn. Es war unvermeidlich, daß Lorill seinen Platz am Hof neben seinem Vater einnahm, und ob ihm das paßte oder nicht, spielte kaum eine Rolle. Leonie w ü rde auf ihre Weise weit mehr Freiheit erfahren als er, wenn sie erst einmal voll ausgebildet war. Sie w ü rde w ä hlen k ö nnen, wohin sie ging, und allein das Ausmaß ihres laran zog die Grenzen f ü r ihr Streben nach dem h ö chsten Ziel — Bewahrerin zu werden.
Was ist es, das du siehst, Schwester? Lorills Stimme war leise, dunkel von Bef ü rchtungen.
Nicht mehr, als ich dir gesagt habe. Leonie seufzte und drehte ihm wieder das Gesicht zu. Gefahr und Ver ä nderung und M ö glichkeit kommen auf uns zu — von den Monden. Ist das nicht genug?
Das kann ich unm ö glich unserem Vater oder dem Rat vortragen , protestierte Lorill. Wenn ich nicht mehr zu bieten habe als ein vages Vorgef ü hl und von den Monden rede, wird man denken, ich h ä tte getrunken wie — was hast du vorhin ü ber Derik gesagt? — wie ein M ö nch zu Mittwinter.
So ist es , stimmte Leonie betr ü bt zu. Aber was kann ich tun?
Wenn du mehr Informationen f ü r mich h ä ttest . regte er vorsichtig an. Es war eigentlich nicht richtig, daß er ein unausgebildetes M ä dchen aufforderte, ohne Anleitung nach Erleuchtung zu suchen. Besonders gef ä hrlich war das bei einer Hastur, denn die Hastur-Gabe war — die Kraft der lebenden Matrix. Wenn Leonie sie in vollem Ausmaß besaß, w ü rde sie keinen Matrix-Kristall brauchen, um sich in Schwierigkeiten zu bringen, aus denen nur eine Bewahrerin sie wieder herausholen konnte. Aber Leonie war daran gew ö hnt, auf ihre eigene Weise vorzugehen — und Lorill war an ihre bemerkenswerte F ä higkeit gew ö hnt, so gut wie alles zu schaffen, was sie sich in den Kopf setzte.
Leonie runzelte die Stirn, aber mehr aus Verzweiflung als aus Mißbilligung. Ich will es versuchen , versprach sie dann. Ich werde mein Bestes tun. Vielleicht gelingt es mir, etwas Bestimmteres zu sehen — etwas, das wir benutzen k ö nnen, um Vater zu ü berzeugen. Lorill ü berließ sie ihrer einsamen Meditation. Leonie l ö schte die Laterne, zog sich aber nicht aus, sondern lauschte statt dessen auf die sie umgebenden Ger ä usche des Lagers. Geduldig wartete sie darauf, daß der letzte Gardist in seinen Schlafsack kroch.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Alle waren die K ä lte und den Regen so leid, daß sie nur zu gern die W ä rme der Decken suchten. Sobald Leonie den Eindruck hatte, daß sie sich f ü r die Nacht zur ü ckgezogen hatten, abgesehen von dem einen Posten, der in seinem durchn ä ßten Umhang die Runde um das Lager machte, stand sie auf und trat an den Eingang ihres Zeltes.
Vorsichtig sp ä hte sie hinaus, wandte ihre Aufmerksamkeit dem Himmel zu. Die Wolken hingen schwer und tropfend ü ber ihr und zeigten wenig Neigung, sich zu bewegen, bevor sie allen Regen ausgesch ü ttet hatten, den sie trugen. Aber Leonie wußte aus jahrelanger Erfahrung, daß Wolken sich immer bewegen. Es ging nur darum, in welche Richtung und wie schnell. Erst innerhalb des letzten Jahres war es ihr gelungen, daraus eine praktische Nutzanwendung zu ziehen.
Sie paßte genau auf, bis sie die Richtung der Bewegung kannte, die Richtung, die ihr verriet, wohin der Wind in der H ö he der Wolken blies. Wie sie wußte, stimmte sie nicht immer mit der auf dem Boden ü berein. Sie griff mit ihren Gedanken hinaus und schubste die schweren Wolken in diese Richtung, schob sie weiter, wie ein Sch ä fer es mit einer Herde fetter, fauler Schafe tut. Schließlich waren sie ihr aus dem Weg, und sie konnte den Himmel sehen. Die vier Monde schwammen hoch ü ber den Zelten dahin, alle voll, jeder in einer anderen Farbe. Sie waren wundersch ö n — aber sie waren so stumm und r ä tselhaft wie immer.
Leonie zog die Eingangsklappe auf und setzte sich auf eins ihrer Kissen. Sie versuchte, irgend etwas in sich zu ber ü hren, das ihren vagen Vorahnungen Form oder Substanz geben w ü rde. Alles, was sie erreichte, war eine wachsende Schlaflosigkeit. Mehrere Stunden lang saß sie im Eingang ihres Zeltes, blickte zum Himmel hoch, versuchte, ihr laran auf das zu konzentrieren, was sie
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