An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Reinmar es nennen würde, kannte er ja, schließlich hatte er sie aufgelesen, als sie nach ihrem Höllenritt vom Pferd gefallen war. Wie lange war das nun schon her? Ein Jahr?
«Ich bringe Sie nach La Jirara, Doña Janna.»
«Danke, aber Sie stehen nicht mehr in unseren Diensten, daher ist es nicht nötig, dass Sie sich um mich kümmern. Sie waren im Krieg, oder?»
Als Antwort schob er den linken Arm unter seinem Poncho hervor. Wo die Hand hätte sein sollen, war ein Stumpf. «Ich bringe Sie trotzdem zurück.»
«Ihre Hartnäckigkeit in allen Ehren, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.»
Nachdenklich befingerte er seinen geölten Bart. Hatte er vorher schon graue Strähnen darin gehabt? Oder hatte der Krieg das gemacht? «Das ist feines Damengerede, ja? ‹Nicht zur Last fallen›! Das tun Sie bereits.»
«Wenn es Ihnen unbedingt unter den Nägeln brennt, dann begleiten Sie mich zu Doctor Cañellas.» Der Arzt war zwar ein Freund Reinmars; ihn aufzusuchen erschien ihr jedoch von allen schlechten Möglichkeiten die sinnvollste zu sein. Sie vergab sich nichts, wenn sie ihn um eine Schlafmöglichkeit für diese Nacht bat. Sie hatte ja nichts mehr zu vergeben. «Seine Praxis ist in der Straße unterhalb von El Zamuro.»
«Gut.» Sofort machte er sich auf den Weg, und sie marschierte ihm hinterher. Nötig fand sie das nicht – von La Jirara bis hierher hatte sie es ja auch allein geschafft. Auf ihr Klopfen an der Tür der Praxis rührte sich nichts. Auch hinter den Lamellenläden schimmerte kein Licht. Verflixt! Gewiss wollte sich auch ein Doctor auf dem Fest amüsieren.
«Es scheint so, als hätte sich alles gegen mich verschworen, also heißt es wohl, zurück nach La Jirara. Die Taverne, wo ich mein Maultier angebunden habe, heißt …», sie rieb sich über das Kinn. «Ich fürchte, ich habe den Namen in der Aufregung vergessen.»
«Haben Sie denn jemanden bezahlt, dass er auf das Tier aufpasst?» Auf ihren verwirrten Blick hin fügte er an: «Wenn nicht, ist es weg.»
Auch das noch. Wenn sie sich dumm anstellte, nur weil ihr Leben aus den Fugen geriet, würde es schwierig werden, sich auf die Beine zu stellen. Sie sehnte sich nach einer kräftigen Hand, die sie hielt. Einem muskulösen Arm mit der Maria Lionza darauf, an dem sie sich einhaken konnte. Wäre Arturo am Leben und frei, so könnte sie einfach … ja, wohin dann?
Entrerríos führte sie die steilen Straßen zurück in Richtung des Hafens. Der Trubel hatte sogar noch zugenommen. An der langen Kaimauer, an einer Stelle, wo jetzt, zu Zeiten des höchsten Pegels, die Kuppen ansonsten hoher Felsen aus dem Wasser ragten, hatte die Prozession haltgemacht. Weihrauch, vom Licht zahlloser Laternen angestrahlt, kräuselte sich über der golden schimmernden Mitra des Bischofs. Feierlicher Gesang wehte herüber. Ganz in der Nähe tanzten wilde Gestalten durch überschwemmte Gassen; ihre Füße spritzten schlammiges Wasser auf. Eine barbusige, gekrönte Frau führte eine andere Prozession an – sie hockte auf einem kleinen Karren, der mit Fellen bezogen war. Janna nahm an, dass sie die heidnische Königin Maria Lionza darstellte. Es war eine Mulattin, mit dunkler, geölter Haut und rot geschminkten Brüsten. An ihren Haaren schaukelten Glasfläschchen, in denen Leuchtkäfer flatterten, und im Mund hatte sie eine dicke Zigarre. Janna war danach, sich die Augen zu reiben, ob diese seltsame Erscheinung tatsächlich soeben an ihr vorüberfuhr. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Wasser abgelenkt, das knöchelhoch stand. Sie musste mit gerafftem Kleid hindurchstaksen. Wieder setzte Regen ein. Niemand störte sich daran, weder der Feuerschlucker mit seinen brennenden Stöcken noch das Männerquartett, das auf Panflöten schrille Weisen zum Besten gab. Plötzlich fand sich Janna am Hahnenkampfplatz wieder. Dicht an dicht standen die Zuschauer am niedrigen Zaun der Arena und feuerten die Tiere an. Entrerríos langte nach einer Schulter. Zu Jannas Verwunderung war es eine Frau, die widerstrebend seiner Aufforderung, sich ihm anzuschließen, folgte.
«Ich hatte eine Glückssträhne!», empörte sie sich.
«Nach Glück folgt Pech. Wie viel hast du gewonnen?»
«Drei Piaster und zwei Pesos.»
Er hielt die Hand auf. Murrend griff sie in die Tasche ihrer weitgeschnittenen Beinkleider und zählte die Münzen auf seine schwielige Handfläche. Diese hochgeschossene Gestalt, dieser lange Zopf, das leidenschaftliche Gesicht von herber
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