An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
auf die Stufen der Veranda.
Angenehme Stille senkte sich herab. Der Alkohol schien Reinmar in Tiefschlaf versetzt zu haben. Gut. Sie hatte nicht vor, so bald hineinzugehen. Sie lehnte die Schulter an einen Pfosten der Veranda und schloss die Augen.
Helligkeit weckte sie. Die Sonne, dicht über dem Horizont stehend, fast so machtvoll wie zu Mittag, trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Im Haus war alles ruhig. Sie stand auf und reckte sich. Bevor Reinmar oder Frau Wellhorn sie entdecken und das Hin und Her weitergehen konnte, eilte sie zum Stall. Sie befürchtete, Reinmar könne das Tor verrammelt haben, damit niemand die wenigen neuerworbenen Pferde stahl. Doch zu ihrer Erleichterung ließ es sich öffnen. Die vier neuen Pferde waren allesamt Braunschecken, dunkle Tiere mit großen weißen Flecken, als sei auf sie Schnee gefallen und zum Teil wieder getaut. Friedlich verdösten sie den Morgen in ihren Boxen. Janna lief zu der kleinsten der Stuten, sattelte sie und führte sie zu einem Hackklotz, um hinaufzukommen. Dann ritt sie langsam ins Freie.
Ein Tag in der Stadt war eine schöne Ablenkung, doch einer draußen in der Wildnis war das, was sie brauchte. Reiten, das Gesicht in den Wind halten – schreien. Es würde hoffentlich ihren Kopf klären. Und wenn nicht, wäre wenigstens noch ein Tag gewonnen.
***
Unverkennbar war es Romina, die auf der Kuppe des Hügels auf ihrer Criollostute thronte, eine Faust stolz in die Seite gestemmt. Janna war erschöpft. Wahrhaftig hatte sie sich den ganzen Tag verausgabt, war über Felder geritten oder an angeschwollenen Bächen entlanggewandert, hatte Wasser aus den Händen getrunken und ihren knurrenden Magen missachtet. Ihre Gedanken hatten sich durchaus nicht geklärt – sie waren einfach davongeweht. Ein angenehmer Zustand. Irgendwann hatte sich die mahnende Stimme der Pflicht erhoben: Sie konnte nicht länger fortbleiben. Mit einem Pferd, das zu nutzen sie nicht um Erlaubnis gebeten hatte. Gott, dieser Tag war so schön gewesen, so schön … War das Leben dieser Llanera nicht beneidenswert? Ein Leben im Sattel, frei und ohne Zwang. Was vermutlich eine romantische Träumerei war, die mit der Wirklichkeit wenig gemein hatte, denn erst recht unter den rauen Llaneros musste es schwierig sein, sich als Frau zu behaupten.
Romina galoppierte den Hang herunter und zügelte ihre Stute dicht vor Janna, die müde, aber hoch aufgerichtet im Sattel saß. Ihr Blick, den sie an Jannas zerzauster Aufmachung herunterwandern ließ, war gewohnt spöttisch. Doch meinte Janna auch eine Spur Anerkennung darin zu lesen.
«Du bist gar nicht im Haus gewesen, stimmt’s, catira ?»
«Nein.»
«Stattdessen bist du den ganzen Tag herumgeirrt wie eine frischgeschlüpfte Schildkröte, die einfach das Wasser nicht finden will. Sicher, dass du ganz und gar eine Weiße bist? Vielleicht hat ja dein Großvater indianisches Blut in eure Familie geträufelt, und das macht dich jetzt so ruhelos.»
Schwer vorstellbar, wie in eine Familie steifer Hamburger Pfeffersäcke eine indianische Geliebte gekommen sein sollte. Janna musste lachen. Romina trieb mit einem Fauchen ihr Pferd an.
«Komm schon, komm!», schrie sie. Janna verstand die Aufforderung. Ein Wettlauf wie voriges Jahr. Sie konnte nicht widerstehen; sie jagte ihre kräftige, ausdauernde Criollostute der anderen hinterher. Es ging in südliche Richtung, über bucklige Weiden, über Wasserläufe hinweg, sodass ihr Kleid bis zu den Knien feucht wurde, durch rauschendes Getreide, Palmenwäldchen und sirrende Mückenschwärme. Bald ritten sie fast Seite an Seite.
In einer Senke tauchten drei Lagerfeuer auf, um die ein gutes Dutzend Zelte gruppiert war. Es mochten an die hundert Männer sein, die darumsaßen.
«Hier leben Sie?», fragte Janna.
«Das ist meine Familie. Na los, du hast Hunger; ich höre deinen Magen bis hierher.»
Janna sah keinen Grund, diese barsch ausgesprochene Einladung abzulehnen. Sie war nicht mehr das zarte Gesellschaftspflänzchen, das davor zurückgeschreckt wäre, sich diesem wild aussehenden Volk zu nähern. Der Duft von Stockbrot und geröstetem Fleisch ließ in der Tat ihren Magen schmerzen. Romina sprang von ihrem Pferd und band es an einem verkrüppelten Baum fest; Janna tat es ihr nach. Entrerríos kam herangestiefelt, betrachtete beide und schüttelte den Kopf.
«Das nächste Mal bringe ich Sie bis an die Tür, Doña Janna.»
«Ich fürchte, das würde immer noch nicht genügen, Señor Entrerríos»,
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