An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
übertüncht. Wenn man genau hinsah, konnte man unterschiedliche Rosatöne erkennen. Nur für einen Herzschlag hatte sie das Blutmenetekel gesehen, und doch hatte sie das Muster genau vor Augen.
Zu dem Sänger vor der Casa del congreso hatte sich eine Frau gesellt, die ihren Körper schwang und mit Kastagnetten klapperte. Seine Serenade, die er da anscheinend für Bolívar sang, klang schaurig. Nieselregen setzte ein, der die beiden nicht störte. Janna ging zu einer schmiedeeisernen Bank unterhalb eines Tamarindenbaums und setzte sich. Unter einem anderen saß ein Pärchen. Die Dame war hübsch mit ihren gedrehten Locken, der roten Blüte im Haar und den schmalgliedrigen Fingern, die um die Hand eines jungen Mannes lagen. Auch im Knopfloch seines schlichten Gehrocks steckte eine Begonie. Eine Krücke lehnte neben ihm an der Bank. Sein Körper zitterte unentwegt; sein Kopf ruckte wild hin und her.
Der Regen hatte wieder aufgehört. Janna lief weiter und gelangte zum Privatpalais, in dem sie die letzten Monate gewohnt hatte. Auch hier waren die anderen Farben auf den Flaggen die einzige sichtbare Veränderung. Wie es den Uriartes in Caracas wohl erging? Wie versprochen hatte sie Verónica geschrieben, doch bisher keine Antwort erhalten. Ob man einer gescheiterten Existenz dort wohl unter die Arme greifen würde? Aber vielleicht wäre sie in einer Stadt wie Caracas nicht exotisch genug, um in der Marquesa den Wunsch zu wecken, sich weiterhin mit ihrer Gegenwart zu schmücken.
Nein, damit tat sie Doña Begoña sicher unrecht. Die Marquesa hatte ihr Schutz gewährt; dafür war Janna ihr ewig dankbar. Doch wäre der Weg nach Caracas der richtige? Sie könnte sich wie die Cimarrónes in die Büsche schlagen, um sich Gesetzlosen anzuschließen. Dort würde sie sich dann zu einer Pistolenheldin aufschwingen, um nicht das andere tun zu müssen, wozu Frauen in einer Gesellschaft von Halunken gezwungen waren. Nun, diese amüsante Überlegung dürfte an ihren nicht vorhandenen Fähigkeiten scheitern, mit einer Feuerwaffe umzugehen. Sie könnte es auch wie die Lady Jane Austen machen, von der es neulich in der neugegründeten Separatistenzeitung anlässlich ihres Todes geheißen hatte, sie habe nie einen Heiratsantrag angenommen. Aber würde irgendjemand Abenteuer auf dem goldenen Fluss lesen wollen? Verdiente man damit überhaupt Geld? Nein, dann lieber in die Fußspuren William Turners treten. Auf einem lärmenden Markt sitzen, Vorüberkommende porträtieren und all die schönen Landschaften, die sie in ihren Aquarellen festgehalten hatte, auf dem Pflaster ausbreiten, das wäre eine schöne Verdienstmöglichkeit – zumindest bis der nächste Regenguss alles zunichtemachte.
Sie rieb sich die Schläfen, um den Druck, der diese wilden Gedanken auslöste, zu mildern. Existenzängste waren eine schlimme Sache; man kam auf die absonderlichsten Ideen.
Sie kehrte zur Plaza zurück, wo der Versehrte mittlerweile mit angezogenen Beinen auf der Bank und sein Kopf ruhig im Schoß der Angebeteten lag. Janna setzte sich auf ihren alten Platz. So war es auch mit ihren Gedanken: ein Herumlaufen im Kreis. Betrachtete man die Angelegenheit mit aller gebotenen Vernunft, besaß sie nur zwei Möglichkeiten: zurück nach Hamburg oder zurück zu Reinmar.
Plötzlich flossen die Tränen. Sie weinte um ihr zerstörtes Leben. Um Arturo und um La Jirara. Um das Leid dieses Pärchens dort drüben. Und über die Ungerechtigkeit der Welt.
«¡Carajo!», stöhnte sie laut. Die Tänzerin geriet kurz aus dem Takt und sah herüber. Dann drehte sie sich wieder so schnell, dass ihre nackten Waden unter dem schwingenden Kleid aufblitzten. Auch sie trug Schnüre mit kleinen Steinchen um die Fußfesseln. Janna hob ihr Kleid gerade so weit, dass ihr eigener Fußschmuck, der über die Stiefeletten gerutscht war, sichtbar wurde. Er schien ihr wie ein kleiner, freundlicher Wink, den Glauben zu bewahren, dass sie ein Teil dieses Landes werden konnte …
«Doña Janna, was tun Sie hier?»
Erschrocken sah sie auf. Dieser schlaksige, krumme Kerl mit dem langen, eingefetteten Schnauzbart, das war doch Reinmars ehemaliger Stallknecht? Er trat ins Licht der nächsten Laterne. Die Art, wie er sich an den Hut tippte, vertrieb ihre letzten Zweifel: José Astarloa Entrerríos stand vor ihr.
«Wo ist Señor Götz?», fragte er.
«Ich bin allein.»
Er verengte die Augen. Sicherlich waren die Gedanken, die er sich soeben machte, die richtigen. Ihre Eskapaden, wie
Weitere Kostenlose Bücher