An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Kapitel
Fast ohne Schwierigkeiten, so erzählte er, war er mit Ángel zu seinem Boot gelangt. Einige der Sklaven waren zu ihnen gestoßen. Sie stahlen Kanus, und gemeinsam flüchteten sie ins Delta. So entstand eine weitere wilde Siedlung von Cimarrónes. Die Sklaven erzählten, was sie gesehen hatten, und die Warao verbreiteten die Geschichte vom weißen Kannibalen, um Fremde fernzuhalten. Oder auch, um Reisenden nützliche Dinge aus der Tasche zu ziehen, wie jener Lotse an Bord der Seuten Deern , der die Besatzung vor der vermeintlichen Gefahr gewarnt hatte.
«Das Gold, das ich zu finden hoffte – es sollte nicht nur mir zu einem angenehmeren Leben verhelfen. Vor allem Ángel. Seines zu erleichtern, hatte ich immer viel zu wenig Geld. Wäre ich zu Größerem imstande gewesen, so hätte ich mir meine eigene kleine Armee gekauft. Dazu eine von aller Welt unbehelligte Hazienda. Für Ángel und mich. So hatte ich es mir vorgestellt. Ja, man kann diesen Traum einfach und falsch nennen. Aber es war der einzige, den ich mir vorstellen konnte.»
Sie legte das Kinn auf seine Schulter und strich ihm über den Arm. Sie dachte, dass sein Leben ein verschlungenes mit einer seltsamen Wendung und dass der Mensch des Menschen Wolf war.
«Als du sagtest, du hättest ‹sie alle› an die Spanier verraten – damals, als wir uns vor Angostura trennen mussten … Ángel und das Dorf hattest du also gemeint.»
«Ja.»
So vieles fügte sich jetzt an seinen Platz. Der Offizierssäbel, den er besessen hatte, hatte de Villaverde gehört. Die Narben auf seiner Brust … Ihre Lippen liebkosten seine Schulter, erspürten eine der vielen anderen kleineren Narben. Das Leben an der Seite eines solchen Mannes – war es denkbar?
Auch mir hat diese neue Welt Narben beschert. Alles ist denkbar. Alles.
«Sag mir noch einmal deinen Namen.»
«Aryqeatuaro.»
Krokodiljäger. Armbrustschütze. Drachenherr. Wolf. Sie umfasste sein Kinn, wandte sein Gesicht ihr zu, um in seinen Zügen zu schwelgen. Ihr Daumen strich über seinen schönen Mund.
Lächle. Zeig mir, dass du es kannst.
Sein rechter Mundwinkel hob sich leicht. Seine Hand legte sich auf ihren Hinterkopf, zog sie näher an ihn heran. Ihre Lippen schmeckten Wildheit und eine neugefundene Ruhe. Sie fuhr durch sein Indigohaar, entsann sich der schmalen, langen Zöpfe, die er früher getragen hatte und es hoffentlich bald wieder tun würde. Ein früher Sonnenstrahl fiel durch den Laden; Staub funkelte wie ein Sternenhaufen, wie ein kleines Universum, das sie allein besaßen. Unten lief jemand durchs Haus und klapperte mit Geschirr, und auf der Straße begrüßten sich die ersten Angosturer und riefen fröhlich ihre Stadtheiligen an.
Sie löste sich von ihm. «Du solltest besser gehen, bevor jemand kommt.»
Er nickte, strich noch einmal über ihre Wange; dann glitt er aus dem Bett und verschwand. Lautlos schloss sich die Tür.
Janna legte eine Wange auf ihr angezogenes Knie. «Kiek mol wedder in», seufzte sie.
***
Das Kind heulte vor Angst. «Es ist gleich vorbei», sagte Doctor Cañellas munter. Mit einem Finger strich er beiläufig über die tränennasse Wange, dann hob er die Pinzette. Ein Skorpionstich hatte ein Auge böse anschwellen lassen. Man konnte den Stachel im unteren Lid stecken sehen. Das herzzerreißende Wimmern wurde immer lauter, sodass es Janna durch Mark und Bein ging. Doch wie er es versprochen hatte, war es rasch getan. Mit einem Augenzwinkern zeigte er dem Jungen die Ausbeute, betupfte die Schwellung mit einer Tinktur und widmete sich dem nächsten Patienten, während die Mutter mit dem Lütten auf dem Arm die Praxis verließ. War der Mann, den er nun in Augenschein nahm, nicht der zitternde Versehrte, den Janna in der Nacht des Festes auf der Plaza Major gesehen hatte? Aber es gab viele solche Männer, und in ihrem Leid ähnelten sie sich.
Janna schleppte die riesige Wassermelone, mit der die Frau bezahlt hatte, hinunter in den Eiskeller. Wie schaffte es Cañellas nur, immer wie aus dem Ei gepellt auszusehen und guter Dinge zu sein? Lediglich die Hemdsärmel hatte er, natürlich akkurat, bis über die Ellbogen hochgeschlagen. Beim heutigen Frühstück – kalter Pferdeschinken auf Brot schmeckte hervorragend – hatte er ihr erzählt, dass seine Gattin in Maracaibo lebte, einer Stadt im Osten, die von Ambrosius Ehinger gegründet worden war, jenem Augsburger Welser, der zu Zeiten der Konquistadoren als Statthalter über Venezuela geherrscht hatte. Die
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