An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
hochrucken. Aber da war nichts. Nur ein fetter Moskito, der sich durch die heiße Luft kämpfte.
Die Schritte wurden lauter, näherten sich. Sie krampfte die Finger in ihr Kleid. «Lucila, wir sollten verschwinden.»
«Ja.»
Die Tür ging auf. Noch bevor Janna den Soldaten in staubiger und nachlässig geöffneter Uniformjacke in seiner Gänze sah, fuhr sie auf dem Absatz herum. «Lucila, lauf!»
Rücklings machte das Mädchen ein paar unschlüssige Schritte. Ihr nasses Kleid raffend, drehte sie sich, stolperte über den schweren Saum und schaffte es endlich, loszulaufen. Janna hörte den Mann die Treppe herunterstiefeln. Sie drehte sich, sah, dass er ein Gewehr hob. Sie riss die Hände nach oben, stieß den Lauf hoch. Nah an ihrem Kopf knallte ein Schuss. Sie meinte, ihr Schädel müsse in Stücken durch die Luft fliegen. Taumelnd presste sie die Hände an die Ohren und sackte nieder.
***
Dumpfe Geräusche drangen an ihr geschundenes Ohr, als sei sie unter Wasser. Es waren Stimmen, erkannte sie nach einer Weile angestrengten Lauschens. Janna war sich nicht sicher, ob sie wirklich die Lider heben und sehen wollte, was die Wirklichkeit für sie bereithielt. Schatten wanderten um sie herum; sie verdichteten sich, wurden zu zwei Menschen, die sie kannte. Reinmar. Frau Wellhorn. Gott im Himmel, die beiden lebten. Ihr Kopf protestierte mit einem lauten Pfeifen, als sie sich aufrichtete. Sie bohrte mit dem Finger im Ohr, um dieses lästige Geräusch wieder loszuwerden. Was war das hier für ein düsterer Raum? Sie erblickte rote Rosen und goldene Ranken auf schwarzem Grund: das kleine Teezimmer mit den chinesischen Tapeten, die sie nicht mochte. Sie lag in einem der dunklen Sesselchen. Es stand in einer Ecke, damit sie nicht seitlich hinunterfiel. Plötzlich wuchs eine Gestalt über ihr auf. Sie starrte auf Frau Wellhorns Mund, der auf sie einredete.
«… hier in … sind.»
Verzweifelt bohrte Janna in ihrem Ohr. Allmählich wurde das wattige Dröhnen heller und klarer.
«… haben … Sorgen gemacht. Wie geht es Ihnen?»
Frau Wellhorn neigte sich über sie, mit dem Lorgnon vor den Augen. Ein prüfender Blick, untermalt mit dem üblichen Vorwurf, was sie denn wieder angestellt haben mochte. Janna war so froh, diese vertraute Geste zu sehen, dass sie sich reckte und die Arme um sie schlang.
«Was ist passiert?», rief sie. «Wo ist Lucila?»
Unbeholfen tätschelte Frau Wellhorn ihren Rücken. Der Muff des dunklen altdeutschen Kleides, das seit langer Zeit nur ausgebürstet worden war, drang in Jannas Nase. Die Erkenntnis durchfuhr sie wie der feurige Stich einer riesigen Nadel. Sie – wer immer sie waren – hatten Lucila einfach über den Haufen schießen wollen. Ihre Finger krallten sich in den Kleidstoff, zerrten daran; ihre Kehle krächzte in dem vergeblichen Versuch, zu schreien.
Die Nägel der Anstandsdame bohrten sich in ihre Schultern und rüttelten sie. «Fassen Sie sich, Fräulein Janna! Lucila ist hier.»
«Sie ist hier!», rief auch Reinmar. Fuchtelnd verschaffte sich Janna Platz und sah das Mädchen an der Wand sitzen, die Arme fest um die Unterschenkel geschlungen. Janna sprang auf und ging vor ihr in die Knie.
«Du bist unverletzt?»
Lucila nickte. Unter der Ebenholzschwärze wirkte ihre Haut grau und dünn. Mochte der Soldat auch danebengeschossen haben, es war alles zu viel für sie. Janna strich ihr über die Wange. Worte des Trostes oder der Aufmunterung – vergebens, dergleichen fand sie jetzt nicht. Sie wandelte selbst am Rand eines Abgrunds, ohne zu wissen, welche Kraft sie die ganze Zeit aufrecht hielt.
Ihre Hände sackten herab und ruhten schwer auf dem Schoß. Tief atmete sie ein. Ein und aus. Immer wieder. Atmen bedeutete Leben, Kraft zum Weitermachen. Sie hockte sich neben Lucila und nahm sie in den Arm. Frau Wellhorn hatte sich wieder in einen der Fauteuils gesetzt und die Finger um die Lehnen gekrallt. Ihre Hände wirkten noch dünner und altersfleckiger als sonst. Sämtliche Sesselpolster waren aufgeschlitzt. Das Fenster war von außen so dicht mit Brettern vernagelt, dass nur schmale Lichtstreifen hindurchfielen. Geöffnet war es nicht – die Scheibe war zertrümmert, die Scherben notdürftig in eine Ecke geschoben, wo auch die Einzelteile des Teetischs lagen, den offenbar ein kräftiger Stiefeltritt zerstört hatte. Reinmar marschierte in dem kleinen Raum auf und ab. Er trug hellbraune Reitbreeches, gewichste Stiefel und ein Hemd mit angeknöpftem Stehkragen. Der
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