An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Arturo beugte sich zu ihr herab. Sein Lächeln war ein sanfter Tadel.
«Was kriechst du auch im Wald herum, Mädchen?»
«Ich war spazieren.» Das konnte man als Wahrheit gelten lassen. «Und dann habe ich … etwas verloren und gesucht.» Auch das schrammte hart an der Lüge vorbei. «Meinen Schuh.»
Nun ja.
«Dann hattest du Glück, dass am Fuß nichts ist.»
Dafür hatten sich in ihre Hände winzige Zecken gebohrt. Noch in der Nacht war sie heulend und mit prallgeschwollenen und geröteten Händen in die Krankenstation gelaufen. Frater Tomé hatte sie in eine Hängematte verfrachtet und ihr Laudanum eingeflößt. Doch kaum hatte er mit einer Nadel in ihrem Zeigefinger herumgebohrt, um die erste Zecke herauszupulen, war die betäubende Wirkung verflogen.
«Wie viele sind noch drin?», fragte sie zitternd.
«Zwanzig bestimmt noch.» Der Kapuziner rückte die Standlupe zurecht, beugte sich wieder über Jannas Hand und fuhr fort, angestrengt auf der Zunge zu kauen. «Keine Sorge, diese Zecken sind eigentlich harmlos. In ein paar Tagen sind nur noch ein paar schorfige Punkte zu sehen.»
Harmlos? Ihr Gesicht schwamm in Tränen. Hätte sie diesen nächtlichen Unfug nur nicht mitgemacht! Sie wusste nun, dass Arturo bei irgendeinem grässlichen Heidenritual mitgemacht hatte. Sollte er doch! Was ging sie das an? Ihr Kopf ruckte zur Seite, prüfend musterte sie noch einmal sein gesäubertes und frischrasiertes Gesicht. Da war ein rotbrauner Fleck im Augenwinkel. Blut? Es sah so aus.
Wie lange hatte sie schon nicht mehr an die Behauptung gedacht, er sei ein Kannibale?
Nein, nein … das ist unmöglich . Sie wandte den benebelten Kopf ab, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. Es war gut, dass der bohrende Schmerz der feinen Nadel ihr erlaubte, die Tränen einfach fließen zu lassen. Nur darum weine ich, wegen nichts anderem. Was Arturo tut, geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht.
«Schlimm, ich weiß.» Dieses Mal beugte sich Frater Sebastián über sie. «Ähnliches hatte ich mit meinem Auge durchgemacht.»
«Waren das etwa auch Zecken?»
«Nein, aber das müssen Sie ja jetzt nicht hören.»
Der nächste Nadelstich ließ sie verzweifelt wimmern. Ihre andere gepeinigte Hand ballte sich um das Kettchen mit den Holzperlen. Frater Tomé hatte es ihr zu Beginn der Behandlung gegeben. Der Rosenkranz kam ihr befremdlich vor, aber so hatte sie wenigstens etwas, an dem sie sich festhalten konnte.
«Erzählen Sie, Frater», sagte Arturo. «Es wird sie ablenken.»
«Da mögen Sie recht haben. Nun, es waren Ameisen, die Alexander von Humboldt und seinen Begleiter Aimé Bonpland zum Aufbruch zwangen …»
Janna wollte protestieren, doch die Namen dieser berühmten Männer ließen sie neugierig schweigen.
«Es ist schon ein eigenartiger Anblick, wenn so eine schwarze Horde wie die Heuschrecken über Tisch und Bänke herfällt und einem die Wäsche von der Leine holt und kleinhäckselt. Leider hing auch meine kostbare Stola daran. Ich lief zurück, um sie zu retten, und den Rest können Sie sich sicher …»
Mit einem spitzen Aufschrei warf Janna den Kopf in den Nacken. «Verdammt!», stieß sie zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. «Verzeihen Sie, Señor Reverendo, aber es tut so weh. Kann ich bitte … bitte noch Laudanum haben?»
Sie bekam es, aber die Wirkung schien mit jedem weiteren Nadelstich wieder zu verpuffen. Ihr entglitt der Rosenkranz. Niemand merkte es. Ihre glühenden Finger ersehnten eine Hand, die die ihre hielt. Frater Sebastián kam bedauerlicherweise nicht auf den Gedanken; die Schaulustigen, die sich im Eingang abwechselten, lenkten ihn ständig ab, und er fuchtelte ärgerlich herum. «Mein ganzer Körper sah so ähnlich aus wie Ihre Hände jetzt», fuhr er fort. «In einem Boot mitten auf dem Fluss hat mir Bonpland dann die Reste meines Auges entfernt und die Wunde vernäht. Und obwohl der Arzt ja selber seit längerem unter einem Fieber litt, waren seine Hände völlig ruhig …»
Die Worte begannen sich aufzulösen, wurden neblig und dunkel. Janna blinzelte, doch alles um sie herum blieb verschwommen. Wo war Arturo? Du Schuft, kannst du nicht bleiben und mir wenigstens die Schläfen trocknen? Deinetwegen liege ich doch hier … Da sah sie ihn wieder, er war dicht bei ihr. Bleib mir vom Leib! , wollte sie rufen. Ich will nicht deine Bluthände an mir! Gott im Himmel, warum hatte er das getan? Wer bist du? Sag es mir … Nein, sie wollte es nicht wissen. Ich
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