An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Arturo dort stehen sah. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Unwillkürlich dachte sie an den lange zurückliegenden Tag, als er, noch ganz von rohem Zorn erfüllt, die ermordeten Franziskaner im Delta unter die Erde gebracht hatte.
Ständig erinnert er mich an ein vergangenes Ereignis. Wie muss es sein, ein Leben an seiner Seite verbracht zu haben? Man könnte dann ein Buch schreiben .
Mit einem sehr hässlichen Kapitel darin.
Er warf einen undeutbaren Blick über die Schulter. Sie konnte regelrecht die Anspannung spüren, die ihn ergriff und fortjagen wollte, fort von ihr. Nicht nur sie war ihm in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen, auch er schien ihre Nähe kaum ertragen zu können. Wusste er, dass sie Zeuge des heidnischen Rituals geworden war? Das konnte sie sich nicht vorstellen; er war so sehr in Trance gewesen, dass er um sich herum wohl nichts mehr hatte wahrnehmen können. Zumal er kein einziges Mal hochgeschaut hatte. Es war natürlich möglich, dass Picao etwas hatte verlauten lassen. Aber das erschien ihr ebenso unwahrscheinlich.
Doch musste Arturo davon überhaupt wissen, um den Wunsch zu verspüren, ihr aus dem Weg zu gehen? Sicher nicht. Er wusste auch so, dass er etwas Scheußliches getan hatte, das ihn nun von ihr trennte.
So war es doch, oder?
Damals in der Mission war sie zusammengezuckt, als er sich zu ihr umgewandt hatte, und hätte sich am liebsten irgendwo versteckt. Am liebsten täte sie das auch jetzt. Doch ein anderer Teil von ihr wollte in seine Nähe. Wollte neben ihm sitzen und Palmfasern zu Seilen drehen, während er die reparierte Seitenwand an seinem Boot kalfaterte oder die Säume des neugefertigten Segels nähte. In friedlichem Schweigen hatten sie gearbeitet oder den Geschichten Frater Sebastiáns gelauscht.
Dieses Schweigen jedoch, als sie auf das Grab zuging, war unangenehm.
Das ist doch albern. So geht es nicht weiter. Sprich einfach mit ihm! Frag ihn, was das war in jener Nacht!
«Was tust du hier?», begann sie zaghaft.
«Das Gleiche wie jeder», murmelte er.
«Du hast Blüten auf die Gräber geworfen?»
«Ja.»
Warum? Ein letzter Gruß an Guahíta – das verstand sie. Doch Frater José Maria hatte er nicht gekannt. Vielleicht hatte ihn der zähe alte Mönch an Frater Christoph erinnert?
Sie lauschte den nächtlichen Geräuschen, während sie auf ihrer Frage herumkaute.
«Du bist fertig mit der Maria Lionza ?»
Diese Frage war es nicht.
«Ja.»
«Schau», sie hob den kleinen Strauß. «Passionsblumen. Ich war ganz entzückt, als ich sie gefunden habe. Ich kenne sie von einer Ausstellung kolonialer Gewächse in einem Palmenhaus. Aber so prächtig waren sie dort nicht.»
«Hatten ja auch eine lange Reise hinter sich.»
«Sieh mal», sie deutete auf einen Monolithen, der jenseits des kleinen Friedhofs weit aus dem Baumkronendach ragte. Tiefschwarz hob sich seine abgeflachte Spitze vom geröteten Dunkel des Abendhimmels ab. Dahinter ballten sich die unzähligen, auf Janna immer noch fremdartig wirkenden Sterne zu feinen Nebeln. «Dort oben diese etwas hellere Linie, knapp unterhalb der Kante. Siehst du sie?»
«Ja.»
«Diese Linie bedeutet, dass der Fluss irgendwann vor Urzeiten so hoch gewesen sein muss. Frater Sebastián hat es mir erzählt, und der hat es von Baron von Humboldt. Das sind sicherlich zwanzig Klafter. Unglaublich, nicht wahr?»
Er brummte zustimmend.
Diese Linie gemahnte sie daran, dass der Fluss längst zu steigen begonnen hatte. Noch sah man es nur, wenn man hinunter zur Bootslände ging, wo der Wasserspiegel langsam die steile Böschung heraufkroch. Der Regen kam häufiger und blieb länger. Bald würden wie von Zauberhand Seen aus dem Boden aufsteigen, schmale Seitenarme zu Flüssen anschwellen, und dann im August würde der Orinoco fast bis ans Dorf schwappen. In manchen Jahren, so hatte der Frater ihr erzählt, kam es vor, dass er die Messe in der Kirche in knöcheltiefem Wasser las.
Frag ihn doch, frag ihn.
«Arturo?»
Sein Schweigen war ein innerliches Wappnen. Sie konnte es hören. Sein tiefer Atemzug glich dem Versuch, sich gegen einen Stein in der Brust zu stemmen.
Sie hatte sich gefragt, ob das Ritual das raschere Ansteigen des Flusses hatte bezwecken sollen. Oder das Beschwören von Geistern, damit sie halfen, den Schatz zu finden. Irgendetwas, das seine Frustration, tatenlos sein zu müssen, linderte. Aber diese Überlegungen waren nur ihr verzweifelter Versuch, eine andere Möglichkeit nicht erwägen zu müssen.
Da
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