An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
sie sich ewig erinnern.
Wie oft muss ich dich noch retten, Mädchen …
Heute kam er nicht.
Wirklich nicht?
Sie drehte sich, weil sie seinen Blick auf dem Rücken zu spüren meinte.
Tünkram.
***
Wie lange war es noch hin bis Romuald? Zwei, drei Wochen? Und käme es auf ein paar Tage mehr oder weniger an? Sicher nicht. Wie auch immer, sie konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, welcher Monat jetzt war. Dass sie nicht einmal das wusste! Aber die Wildnis sorgte eben auch für Unordnung im Kopf. Sie machte sich auf den Weg zum Guardian, denn der hatte einen Kalender in seinem Arbeitszimmer und würde es wissen. Vergebens klopfte sie an die Tür seines Arbeitszimmers, das als einziger Raum eine solche aufwies. Frater Sebastián war nicht da. War er zu einer der vielen Gebetszeiten gegangen, die den Tag der Mönche einteilten? Auf das Glockengeläut hatte sie nicht geachtet. Hatte die Kirche überhaupt einen Ton von sich gegeben? Das Dorf wirkte so ruhig. Als hätte jemand gesagt: Seid leise. Frater José Maria ist doch krank .
So war es ja. Die Gewissheit lenkte ihre Schritte in die Krankenstation. Auf dem Korridor lungerten ein paar Indios herum; eine Mutter wiegte ein herzzerreißend heulendes Kind auf dem Arm, an dessen Schläfe eine Beule prangte. Fast wäre Janna mit Frater Tomé, der von einem der Zimmer in ein anderes überwechseln wollte, zusammengestoßen.
«Gott im Himmel, verzeihen Sie, Señora», murmelte er. «Ich war in Gedanken.»
«Das macht doch nichts. Wie geht es Frater José Maria?»
Er legte die Finger aneinander und schickte ein stummes Gebet an die Schilfrohrdecke. «Das Fieber macht ihm zu schaffen. Er kann jede Fürbitte gebrauchen. Wie geht es Ihren Händen?»
Sie hob und drehte sie. «Gut.»
«Sehr schön. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden?»
«Natürlich.»
Der Frater eilte zu der Frau und lauschte ihren Ausführungen, während er sanft den Kopf des Kleinen umfasste und ins Licht drehte. Die Frau folgte ihm dichtauf in das Behandlungszimmer, in dem Janna so fürchterlich gelitten hatte. Janna überlegte, zu Frater José Maria zu gehen und ihn nach seinem Befinden zu fragen … und nach dem anderen . Nur sah es ganz danach aus, als sei sein Zimmer diesmal nicht belagert. Und dann wäre es unschicklich, würde sie es ganz allein betreten. Das allerdings waren Überlegungen, die in eine andere Zeit, in eine andere Welt gehörten. Nicht hierher.
Entschlossen ging sie zu seiner Kammer und hob eine Hand, um an die Zarge zu klopfen. Nicht der Anstand ließ sie erneut zögern. Sondern wiederum die Frage, ob das denn ihre Sache war. Arturo wollte etwas von ihm wissen, also sollte Arturo ihn fragen.
Was allerdings ungefähr so ist, als spiele man Jeu de Paume in einer Halle aus Glas .
Besser, sie tat es selbst. Doch bevor sie klopfen konnte, flog der Vorhang zurück.
Fast wäre sie gegen Arturo geprallt. Seine Augen verengten sich; er war so verblüfft wie sie.
«Hast du mit ihm gesprochen?», fragte sie leise, bevor sie sich endlos anschweigen konnten.
«Ja.»
Wollte er es bei dieser Silbe belassen? «Und?»
«Er brachte nur ein paar Wörter heraus. Etwas wie: ‹Humboldt hat den Weg.› Dann ist er eingeschlafen.»
«Humboldt hat den Weg was ?»
«Keine Ahnung.»
«Gekannt? Beschritten? Beschrieben?» Sie knetete ihr Kleid. «Soll ich warten, bis der Frater wach ist, und ihn noch einmal fragen?»
Kein Muskel in seinem bemerkenswerten Gesicht regte sich. Und doch las sie eine Antwort darin. Eine erschreckende Antwort.
«Das Fieber ist schlimm?»
«Er wird es nicht überstehen.» Arturo hob eine Hand, ließ sie über ihrer Schulter verweilen, als überlege er, ob er sie berühren sollte. Doch dann zog er seine Hand zurück und ging an Janna vorbei hinaus.
***
Frater José Maria verschied am selben Tag wie die alte Guahíta, die eines Morgens einfach nicht mehr aufwachte. Das Wehklagen des Dorfes zog sich über Tage hin. Allein die Mönche trauerten still, während sie den Frater und die Häuptlingsfrau mit christlichen Riten unter die Erde brachten, derweil sie von dichtem Qualm eingehüllt wurden. Der Rauch des Tabaks sollte die Geister der Verstorbenen erfreuen, die, so glaubten die Indios, von den Baumkronen auf sie herabsahen. Erst als der Friedhof wieder verlassen dalag, trug Janna einen Strauß Blumen an die beiden Gräber, die bereits von welkender Pracht überhäuft waren, die schwere Blütendüfte ausströmte. Sie stockte in ihrem Schritt, als sie
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