An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
bedaure, dass unser weihnachtliches Beisammensein gestört wird. Aber bei diesem Mann sollten wir eine Ausnahme machen.»
Eine kleine Gestalt kam hereingetapst, nackt bis auf dicke Hüftschnüre, die im Grunde nichts verhüllten. Frau Wellhorn schnappte nach Luft und presste ihr Taschentuch an den Mund. «Sehen Sie zum Fenster hinaus!», zischte sie Janna ins Ohr.
Dies war ein Einheimischer, ein Indio! Aber war es wirklich ein Mann? Oder doch ein Kind? Arme und Knie waren mit Lederschnüren umwunden, an denen Muscheln und Federn hingen. Das glatte schwarze Haar lag wie eine Kappe um sein Gesicht. Der quer in der Nase steckende Knochen schob sich hinauf, als der Indio breit lächelte. Zwei einsame Zähne in der Farbe alten Elfenbeins beantworteten die Frage nach seinem Alter.
«Frohe Weihnachten, Heidenmensch», murmelte Pastor Jensen. Ganz unbemerkt hatte er seine Pfeife entzündet und schmauchte nun genüsslich. Er schmunzelte, als der Indio, in der Tat wie ein Kind, neben ihn trat und die Pfeife beäugte. Der Gnom fasste den silbernen Kandelaber an, grübelte über die Schlingerkante des festgenagelten Eichentisches nach, befingerte die Seekarten in ihrem Wandregal, den Globus und zuckte kichernd zurück, als dieser sich drehte. Keckernd lachte er, während er mit dem Bleilametta und den roten Schleifen der jungen Fichte auf dem Sideboard spielte und die Nadeln rieseln ließ. Seine hochgeschnürte Unaussprechlichkeit wackelte bei jedem Schritt. Als er bei Frau Wellhorn anlangte, schlug sie sich schwer atmend gegen die enggeschnürte Brust.
«Wollen Sie das nicht unterbinden, Kapitän?»
«Das wäre unklug.»
Auch Janna sah sich gemustert, dann Reinmar, den das alles sichtlich amüsierte; lediglich den beiden Nautischen Offizieren und dem jungen Schiffsarzt widmete das seltsame Männlein keinen längeren Blick. Schließlich stand der Indio wieder lächelnd neben Vesterbrock.
«Das ist Geoffrey», Vesterbrock stellte der Tischgesellschaft den Matrosen vor, der mit den Händen an der Hosennaht Aufstellung nahm. «Er diente auf einer britischen Fregatte. Wegen irgendeines geringen Vergehens wurde er gekielholt, hier vor der Küste – die Briten sind da wenig zimperlich. Der Kerl schnitt sich unter Wasser los, schwamm ans Ufer und kroch bei den Indios unter. Reife Leistung! Allerdings hatte er sich das wilde Leben im Delta doch anders vorgestellt: Er war froh, nach drei Jahren von der Seuten Deern aufgelesen zu werden. Und da ihm noch immer in England der Galgen droht, ist er hier sehr umgänglich. Ist’s nicht so, Geoff?»
«Aye», stieß der Mann hervor, der bei der Erzählung mit keiner Wimper gezuckt hatte.
«Jedenfalls, er kennt die Sprache der Warao. So heißt der Indianerstamm, zu dem dieser Herr hier gehört.»
«Herr?», schnappte Frau Wellhorn. «Mir wäre wohler, der Engländer würde das Delta kennen und nicht bloß die Sprache. Wir sollen uns in die Hände dieses … Zwergs begeben?»
«Im Gegensatz zur Waraozunge ist das Delta ständiger Veränderung unterworfen.» Vesterbrock nickte dem Matrosen zu, der sich dem Indio zuwandte. Janna fand es schwer vorstellbar, dass die eigenartigen Laute, die er vorbrachte, irgendeinen Sinn ergaben. Das Lächeln des Indios veränderte sich nicht, als er antwortete.
Geoffrey zögerte.
«Nun?», drängte Vesterbrock.
Der Matrose schielte in Jannas Richtung. «Er will den Schmuck der Miss.»
«Bitte?»
Nicht Janna hatte dieses Wort schneidend ausgestoßen, sondern Frau Wellhorn. Alle waren zusammengezuckt, sogar Vesterbrock. Nur der Indio nicht. «Das ist doch Tünkram», schnaufte sie. «Unsinn!»
Pastor Jensen, der den Schreck als Erster verdaut hatte, saugte an seiner Pfeife. «Für diese Fälle hat’s doch sicher Glasperlenklimbim?»
Vesterbrock schritt zu seinem Sekretär und entnahm ein Kästchen. Dabei ging er langsam vor; jede seiner Bewegungen wirkte gewichtig, als enthülle er einen Goldschatz. Unverhohlene Gier breitete sich im Gesicht des lächelnden Zwergs aus.
Janna sah nicht, was das Kästchen enthielt, doch der Indio warf nur einen kurzen Blick hinein und fuchtelte mit zwei Fingern vor dem Gesicht herum.
«Ich rate, das heißt Nein», schmauchte Jensen.
Der Indio deutete auf ihren Hals, über den sie sofort schützend die Hand legte.
«Sagen Sie dem Mann, Geoff, dass das, was er will, kein angemessener Preis ist», befahl der Kapitän. Während er seinen verschmähten Schatz wieder wegschloss, flogen die Worte zwischen dem Warao
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