An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
wiederholte sich nun alles. In diesem Augenblick hasste sie diese Phantomgestalt Simón Bolívar von ganzem Herzen.
Als die Kutsche endlich vor dem Portal des Palais der Familie de Uriarte hielt, hatte heftiger Regen eingesetzt. Ein Bediensteter öffnete den Schlag, ein anderer hielt einen aufgespannten Regenschirm parat. Janna blickte zu Reinmar zurück. Sie sah wieder den alten Reinmar vor sich. Nein, sie sah ihn mit alten Augen; er hatte sich ja nicht verändert. Sie war es, die nicht mehr dieselbe war. Er wirkte bedrückt, wie sie alle, und sie dachte, dass sie es immer gemocht hatte, wenn er, selten genug, dandyhaft melancholisch war.
«Es tut mir leid», sagte sie so leise, dass es im Getrommel des Regens und der Hektik der Stadt fast unterging. «Sieht so aus, als würde Weihnachten auch dieses Jahr verpatzt.»
Sicherlich wusste er, dass sie nicht das Fest meinte. Er reckte sich nach ihr, und sie wollte rasch hinaus. Doch dann ließ sie zu, dass er eine Hand an ihre Wange legte. Sie schloss die Augen. Eine Träne rollte heraus – den Rest schluckte sie mühsam hinunter.
«Ich wünsche mir von dir ein Aguinaldo», sagte er. «Sei wieder die Alte.»
Sie stieg aus, ließ sich von David, der mit dem Aufsammeln des vom Kutscher abgeladenen Gepäcks hoffnungslos überfordert war, die lästige Krücke reichen, schnappte sich ihre Staffelei und eilte unter dem Schirm hinweg in die Eingangshalle. Frau Wellhorn und Lucila folgten. Dann fuhr die Kutsche wieder an, um Reinmar zu Doctor Cañellas zu bringen. Auch im Haus Uriarte herrschte Hektik, und sie mussten in der Eingangshalle geschlagene zwei Stunden warten. Frau Wellhorn brummelte unentwegt ihre Empörung über südamerikanische Pünktlichkeit in sich hinein. Immerhin versorgte ein Hausmädchen sie mit gekühltem Limonensaft. Schließlich, die Nacht war schon hereingebrochen und das Haus erstrahlte im Licht silberner Kandelaber, kam Doña Begoña die Wendeltreppe heruntergeeilt und begrüßte Janna überschwänglich.
«Ich danke Ihnen für die Einladung», sagte Janna steif. «Es ist ja nicht so, dass wir der Familie nahestehen.»
«Aber Sie sind Landsleute des ehrwürdigen Barons! Und Sie, Doña Janna, sind selbst eine kleine Berühmtheit hier in der Stadt. Betrachten Sie es als netten Anstandsbesuch, und ignorieren Sie einfach das Durcheinander. So lässt es sich doch gut aushalten. Eines der Mädchen zeigt Ihnen Ihr Zimmer.»
Es war eine schmucke kleine Kammer unter dem Dach der Villa, wo sich die aufgeheizte Luft mit dem Messer schneiden ließ. Ein breites Bett für Janna, ein schmales für Frau Wellhorn und eine Matte für Lucila. David durfte im Kutschenhaus schlafen, und Xabier war mit Ana zu deren Familie gegangen, die unten am Hafen wohnte. Der alte Hausdiener hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen gewehrt; eher wolle er sterben, als La Jirara zu verlassen. Erst eine kräftige Backpfeife der wuchtigen Köchin hatte ihn zur Besinnung gebracht. Sie waren schon eigenartige Leute, diese Venezolaner.
***
Das Weihnachtsfest behielt Janna als letztes halbwegs fröhliches Ereignis in Erinnerung, bevor das Elend über die Stadt hereinbrach. Die Zeit wurde zu einer endlosen Abfolge von Stunden und Tagen, die sie am kleinen Dachfenster sitzend verbrachte. Sie sah, wie das Barrio, das Armenviertel am östlichen Stadtrand, mit Feuer und Äxten niedergemacht wurde und einer schlammigen Kraterlandschaft aus Schützengräben und Wällen wich. Fregatten spuckten Kolonnen von Soldaten aus; sie würden sich, nicht anders als in Hamburg, wie Schmarotzer in den besseren Häusern der Bürgerschaft festsetzen. Aber auch in den Straßen wucherten Baracken und Zelte wie die erdrückenden Schlinggewächse im Urwald. Die Stadt schien unter der Last der herbeigeorderten Truppenkontingente und ihres Equipments zu ersticken. Eine nicht enden wollende Kolonne von Matrosen und Packpferden schleppte Mehlsäcke, Pulversäcke, gebündelte Waffen und Munitionskisten vom Hafen herauf. Bald kam auch der Tag, an dem fremde Kriegsschiffe einige Meilen ostwärts ankerten. Ihre Barkassen brachten die gegnerischen Truppen ans Ufer. In der Ferne wuchs eine Zeltstadt. Reiterhorden kamen über Land. In das Lärmen der Vorbereitungen mischte sich das Trommeln und Pfeifen der Militärkapellen, und trotz allem meinte Janna wie aus einem betäubenden Traum zu erwachen, als der Kampf begann.
Tausendfach blitzte die Sonne auf den Bajonettspitzen und Lanzen, um mit der
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