An die Empoerten dieser Erde
ist es, was wir tun müssen.
R.M.: Ihre faustische Antwort erinnert mich an die Kraft und Zuversicht einer Epoche, die wir durchaus wieder gut gebrauchen
könnten. Der Schriftsteller Oscar Wilde hat einmal gesagt: »Eine Karte der Welt verdient nicht einmal einen Blick, wenn das Land Utopia auf ihr fehlt.«
S.H.: Ja, in der Tat, ohne Ideen kommen wir heute nicht weiter.
R.M.: Auf den scheinbar so kritischen Hinweis der Verzagten, dass die Idee leider der Realität nicht entspreche, antworten Sie also mit dem Philosophen Hegel: »Ja, dann umso schlimmer für die Wirklichkeit!« Ich glaube, das ist auch Ihr Argument. Allen Ratlosen, Verzagten oder Verzweifelten sagen Sie: »Halt mal, liebe Leute, wir haben eigentlich keine andere Wahl, als vorwärtszugehen, ansonsten fahren wir gegen die Wand!«
S.H.: Richtig. Und wenn man sagt, ich sei ein Optimist, so präzisiere ich immer, dass ich insofern ein Optimist bin, als es keinen anderen Weg zu gehen gibt als den zum Besseren hin.
R.M.: Sie zitieren wiederholt Walter Benjamins Schrift Über den Begriff der Geschichte . Ein Engel, vertrieben aus dem Paradies, fliegt da mit erschreckten, weit offenen Augen von Katastrophe zu Katastrophe. Sie lehnen sich aber auch an den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel an, der die Geschichte als eine »Geschichte des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit« ansah. Ist das nicht ein Widerspruch?
S.H.: Also, mein Optimismus besagt nur eines: Unsere Menschheit hat in den vergangenen Jahrhunderten schon viele schlimme Situationen überlebt. Unsere ganze Geschichte ist voll von Kampf, Krieg und Zerstörung. Wir haben uns als Menschen sehr schlecht bewährt. Trotzdemsind wir vorwärtsgekommen und haben vieles überwunden, was schwer zu überwinden schien. Heute stehen wir vor einer besonders schwierigen Situation. Wir werden die Welt nicht weiter so bewirtschaften können, wie wir es getan haben. Wir werden zu viele sein, um uns noch genügend ernähren zu können. Viele Gefahren stehen uns bevor. Ich bin nicht so optimistisch, dass ich sagen würde, diese Gefahren sind leicht zu überwinden. Aber ich bin optimistisch genug, um zu sagen, dass gerade weil diese Gefahren sehr schwer zu überwinden sind, sie die Beteiligung aller brauchen, der jüngeren und älteren Generationen. Und mein Optimismus zeigt mir an, dass es Potential in uns gibt, dass noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die wir haben. Nur wenn wir diese Möglichkeiten nutzen, können wir vielleicht die Gefahren überwinden, die die Menschheit jetzt auf dem Weg zur Weltgesellschaft herausfordern. »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, schrieb der Dichter Friedrich Hölderlin in einem Gedicht.
R.M.: Sie sind ein Liebhaber von Lyrik. Nach so viel besprochener Prosa also die Poesie an die Macht?
S.H.: Ja! Die Rede, dass die Poesie an die Macht kommen soll, klingt natürlich ein bisschen abstrakt. Aber was ich damit meine, ist, dass wir in uns eine poetische Möglichkeit haben. Poesie stammt ja vom griechischen Verb »poein« ab und bedeutet »schaffen«. Wir haben diese Möglichkeit in uns, neue Verhältnisse zu erschaffen. Wir können gegen die alte Menschheit widerstehen und eineneue auf den Weg bringen, um eine neue Welt zu erschaffen!
R.M.: Eine letzte Frage: Was würden Sie den Empörten dieser Erde mit auf den Weg geben wollen?
S.H.: Also, meine Botschaft an die Empörten dieser Erde ist: Bleibt nicht dabei, empört zu sein, sondern zeigt Verantwortung
und engagiert euch. Verändert diese Welt, habt Mitgefühl und seid Bürger einer wahrhaften Weltgesellschaft. Du musst dein Leben ändern! Weshalb bist du
empört? Weil du dein Leben bis jetzt noch nicht verändert hast.
Roland Merk und Stéphane Hessel in Paris, Ende Februar 2012 © privat
Informationen zum Autor
STÉPHANE HESSEL, geb. 1917, als Kämpfer der Résistance 1944 nach Buchenwald deportiert, überlebte drei deutsche
KZ. Fortan empfand er die moralische Verpflichtung, sein Leben in den Dienst der Menschenrechte zu stellen. Er beendete sein Philosophiestudium, trat in
den diplomatischen Dienst ein. Innerhalb der UNO setzte er sich für jene Ideale ein, denen er sich seit jeher verbunden fühlt: eine Welt ohne
Atombomben, ohne Konzentrationslager, ohne Imperialismus – eine Welt, in der die Menschenrechte eingehalten werden. Auch nach Ende seiner offiziellen
Berufstätigkeit bleibt Hessel politisch aktiv, mahnt Recht und Gerechtigkeit, Verantwortung und Zivilcourage an
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