An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Tom jedes Mal wieder erschütterte. Maria hielt ihren toten Sohn steif wie ein Brett auf dem Schoß. Ihr Gesicht war ausdruckslos, der Schmerz hatte sie als Fassade zurückgelassen. Der nackte Leib Christi war weiß und aus Schwemmholz geschnitzt. Lang, dünn, starr, auf ewig tot. Ein roter Pelargonienstock stand zu seinen Füßen. Sorgsam arrangierte Kerzen brannten hinter dem schmiedeeisernen Gitter. Genützt, bebetet der Ort. Auf der südseitigen Mauer saß eine Wespe, die ihren Hinterleib auf und ab bewegte, manchmal zitternd. Der Löschteich vor der Scheune war bedeckt mit einer dichten Schicht von Wasserlinsen. Als ob sie alles Leben darunter ersticken wollten.
Von der Kapelle war es nicht mehr weit bis zum Gipfel des Grillparz. Sie waren sich nahe. Hielten sich an den Händen, diese einfachste aller Gesten der Liebe. Alle Sehnsucht in der Berührung zweier Hände. Alles Vertrauen. Nur diese Hände. Wie sie unverletzbar machen, ganz still im Aufruhr. Und wie sie zu den Flügeln der Lust werden und dieses Verlangen wecken, dieses niemals endende Verlangen, zu leben, um zu lieben.
Die Nacht über ihnen.
7
Dort, wo sich vor dem Wald die letzten Wiesen und Felder die Südwesthänge des Grillparz hinaufziehen, war Parmenides zu Hause. Er war als junger Lehrer aus dem Rheingau an das Stiftsgymnasium gekommen und war geblieben, als er Roberta kennenlernte. Er hatte Geschichte und Philosophie unterrichtet, war seit einigen Jahren in Pension, liebte Griechenland und alles Griechische, hieß eigentlich Balthasar, aber Tom hatte ihn in einer weinseligen Nacht in Palea Epidauros Parmenides getauft. Ein griechischer Philosoph ist mir lieber als ein Heiliger Dreikönig, hatte er damals gesagt und sie lachten und es blieb beim neuen Namen.
In jahrelanger Arbeit hatten Roberta und Parmenides das Haus renoviert – es war ebenfalls ein altes Bauernanwesen, die Tenne wurde zur Bibliothek, das Austragzimmer zur Schreibstube, die Küche mit dem großen Herd blieb, wie sie war. Für Tom wurde eine Dachkammer bereitet. Er war oft zu Besuch hier. Seit seine Mutter immer weiter von der Welt wegdriftete, war ihm Roberta zur Vertrauten geworden, heiter und unaufdringlich in ihrer selbstverständlichen Zuneigung.
Die beiden Männer hatten bis nach Mitternacht debattiert und Schach gespielt. Jetzt saßen sie zu dritt am Frühstückstisch. Frischer Schafkäse stand da, Rosmarinbutter und Pfefferwurst vom Sturmbauern. Im Dorf gab es jeden Donnerstag einen Bauernmarkt, der zugleich Treff- und Tratschpunkt war und auf dem Roberta alles kaufte, was sie nicht selbst aus ihrem Garten erntete und verarbeitete.
Der Morgen war wolkenlos.
Seit langem wieder ein strahlender Tag. Von den Wiesen stieg Dampf auf, die Minze an der Hauswand duftete, jenseits des Zaunes grasten Kühe. Der Himmel war frisch poliert. Die Kupferdächer der Stiftstürme, die aus den abschüssigen Wiesen zu wachsen schienen, glänzten in der Sonne. Selbst in den Lamandergraben fiel Licht. Der Wald, der wie eine Schärpe um den Grillparz lag, atmete noch regennass. Ein Bussard zog seine Kreise. Eine Amsel jagte schreiend eine Krähe. Der Bauer von nebenan schüttelte mit einer Heugabel die Zeilen verfaulten Grases auseinander. Auf den Hügeln jenseits des Tales sah man die Laster, die stumm auf dem fertigen Teilstück der Autobahn über Land zogen.
Roberta war mit Toms Mutter Sieglinde aufgewachsen. Ihre Eltern hatten im Zuhäusl gelebt, das zum Lamander-Anwesen gehörte. Der Vater war Dachdecker, ihre Mutter Näherin „auf der Stör“ gewesen, das hatte es damals noch gegeben.
Erzähl mir die Geschichte, Roberta, bitte, sagte Tom unvermittelt.
Welche Geschichte?
Du weißt schon.
Du meinst die von Anjuschka?
Ja, die meine ich.
Was weißt du davon, Tom?
Mama hat Karin und mir zwar davon erzählt, als wir noch Kinder waren, aber eher in Andeutungen und mehr, um uns Angst zu machen und uns davon abzuhalten, beim Spielen zu weit in den Graben hineinzugehen. Und die älteren Leute im Dorf haben hie und da ganz nebenbei die Geschichte mit Anjuschka erwähnt, sich bedeutungsvoll angeschaut und gleich wieder aufgehört, davon zu reden, wenn sie gesehen haben, dass jemand zugehört hat. Wie war es wirklich, Roberta?
Kennst du das morsche Holzkreuz?
Das am Bach? Es steht aber nichts drauf.
Das ist zum Gedenken an Anjuschka.
Legst du manchmal Blumen hin?
Wenn ich vorbeikomme, ja. Aber das ist selten.
Wie alt seid ihr damals gewesen?
Ich war neun, deine Mutter
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