An diesem einen Punkt der Welt - Roman
eigenes Zimmer für sie ein, denn er schrieb und las oft bis zwei oder drei Uhr nachts, er wollte sie nicht stören. Bevor er das Licht löschte, schlich er sich manchmal noch an ihr Bett und sah sie lange an. Ihr Gesicht war schmal und fein ziseliert, wie eine griechische Mädchenstatue, immer hatte sie etwas Rätselhaftes in ihrem Lächeln, wenn Tag war, wenn sie bei ihm war. Ihr Teint war etwas dunkler als üblich im Dorf und so schwarz das Haar. Später erfuhr er, dass ihre Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg, als es noch die k.u.k. Monarchie gegeben hatte, aus Kroatien in diese nördliche Gegend gezogen waren und sich schließlich im Land des Grillparz niedergelassen hatten. Das sind die Windischen, sagten die Leute noch lange nachher.
Elisa war streng und in den Prinzipien traditioneller Dorf- und Handwerksideale erzogen worden, auch streng katholisch. Ihr Vater war ein gesuchter Zimmermann in Summerbach, pedantisch, pünktlich und zielorientiert. Tom öffnete Elisa eine neue Welt, die sie staunend einsog: ein regelloses Leben, Freitags-Beisel , Happenings, Debatten, Bücher und Songs, Traum von Freiheit. Ihr Lachen flog durch die Räume und den Rauch der Zigaretten, sie war die Seele des Hauses, sagte Matthias, der sie heute noch verehrt. Sie war praktisch, umsichtig und süchtig nach all diesem Fremden und Aufregenden. Elisa bereitete vor, machte Ordnung hinterher, brachte das Geld.
Sie arbeitete bei einer Reiseagentur in Kolness, der einzigen größeren Stadt in der Nähe des Dorfes. Sie hatte einen Handelsakademieabschluss, hatte schnell Karriere gemacht und war für die Organisation von günstigen, außereuropäischen Hotelarrangements verantwortlich, vor allem für Pauschalreisen. Tom bewunderte ihre Effektivität. So jung, so schön, so tüchtig, sagte er. Ihr Wecker läutete morgens um halb sieben, wenn Tom noch schlief, lange in den Vormittag hinein.
Der Grillparz blieb ihr Ort.
Der Weg weg vom geschäftigen Tun.
Winters, sommers.
Am meisten liebten sie die Stunde des Abendlichts.
Es war die Stunde der milden Gedanken. Sie kommen und gehen zu dieser Zeit leichter als sonst, sie vertrauen nicht den Wahrheiten, an die die Tage glauben und die uns in den Nächten umtreiben. Es ist die Stunde, in der man nicht weiß, wer man ist, weil man es nicht wissen will. Das Licht nimmt alle Fragen auf und lässt sie über die Myriaden von Punkten gleiten, aus dem es besteht. Und alles beginnt langsam zu tanzen, und die Musik, die dazu gespielt wird, lässt uns verstehen, dass jede Geschichte, die wir erinnern, und auch jede, die wir erzählen, nur eine Möglichkeit ist, die Erfindung eines Lebens, das uns nur geborgt ist für das Spiel der Phantasie.
Stunde des Abendlichts.
Sie waren beide müde, als sie sich wieder einmal auf den Weg machten.
Elisa kam von der Reiseagentur, Tom aus einer Sitzung der Bürgerrechtsbewegung GO FOR BETTER. Ihre Arbeit war anstrengend, seine mühsam. Im Verein hatte es wieder Streit gegeben, der Vorsitzende wollte aggressiv vorgehen, andere rieten zur Vorsicht, Tom versuchte zu vermitteln. Er mochte keine Zerwürfnisse. Wenn er aufstand, sein schulterlanges Haar aus der Stirn streifte und zu sprechen begann, schauten selbst seine Gegner zu ihm auf. Nicht, weil er groß war und gediegen wirkte, sondern weil er immer gute Argumente hatte, die er mit Gelassenheit vorbrachte. Wenn er keine Zustimmung fand, geriet er nicht in Wut und war nicht gekränkt. Er suchte andere Lösungen und meist fand er sie.
Elisa hatte die Verhandlungen mit den Hotelketten um die großen Seen zwischen den USA und Kanada vorbereitet, die Niagara-Fälle waren nach wie vor eine Attraktion. Der Preiskampf wurde immer härter und sie schien erschöpft. Sie wusste, dass sie fast drei Wochen unterwegs sein würde. Sie wollte nicht fort von ihm. Längst waren sie ein Paar geworden, innig und hell.
Der Waldboden war bedeckt mit leuchtendem Grün. Sie gingen langsam, hatten sich viel zu erzählen. Die tiefen Traktorspuren von den vergangenen Regenfällen waren aufgetrocknet. Brombeeren reiften. Abendvögel sangen dem Tag ihr letztes Lied.
Auf dem Lenzanger, der Lichtung zwischen den beiden Waldgürteln, lag das verlassene Bauernhaus, in dem der Holzknecht Virgil Küche und Altenkammer bewohnen durfte. Wenn er zu Hause war, kehrten sie kurz bei ihm ein, brachten ihm Schokolade oder einen Laib frisches Brot, tranken ein Glas Most und gingen weiter.
Unweit des Anwesens stand die Kapelle mit jener Pietà, die
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